Justiz in England und Wales: Ein Richter statt zwölf Geschworenen

Ein grundlegender Umbau der englischen Justiz soll die Zahl der Verfahren vermindern, die vor Geschworenen-Kammern verhandelt werden, und stattdessen Verhandlungen vor Einzelrichtern vermehren und beschleunigen. Die vom britischen Justizminister David Lammy als „Schnellgerichte“ vorgestellten „Swift Courts“ sollen künftig die Hauptlast der Strafverfahren schultern und sich mit jenen Fällen befassen, in denen das Strafmaß voraussichtlich bis zu drei Jahre Gefängnis betragen wird. Reine Schöffengerichte („Magistrates‘ Courts“), die bisher schon leichtere Vergehen verhandeln, sollen künftig Strafen von bis zu 18 Monaten Haft verhängen dürfen.
Lammy folgt mit der Gerichtsreform, die nur in England und Wales greift, weitgehend den Empfehlungen des pensionierten Richters Brian Leveson, der gleichfalls empfohlen hatte, den unteren Instanzen mehr Kompetenzen zu geben und eine neue gerichtliche Zwischeninstanz einzuführen. Leveson war mit seiner Revision beauftragt worden, da die Zahl der unerledigten Gerichtsverfahren seit der Corona-Pandemie dramatisch stieg.
Gegenwärtig beträgt der Rückstau nach Angaben des Londoner Justizministeriums rund 78.000 Fälle, nach Prognosen soll im Jahr 2028 diese Zahl auf 100.000 Fälle steigen. Ein heute angeklagter Verdächtiger müsse unter Umständen bis zum Jahr 2030 auf eine Hauptverhandlung warten. Lammy sagte, im vergangenen Jahr seien zehn Prozent aller Vergewaltigungsfälle eingestellt worden, weil die Opfer aufgrund der langen Wartezeiten ihre Aussagen zurückgezogen hätten.
Sind Richter voreingenommener als Jurys?
Der Minister machte die vorherige konservative Regierung für die „Krise der Justiz“ verantwortlich. Die Verhandlungen vor Einzelrichtern könnten rund 20 Prozent Zeitersparnis bewirken. Den Angeklagten soll künftig auch die Möglichkeit genommen werden, auszuwählen, ob sie ihren Fall lieber vor einem Geschworenengericht oder einem einzelnen Richter verhandelt sehen wollen. Diese Entscheidung sollen künftig die Gerichte bei ihrer Geschäftsverteilung treffen; insgesamt soll durch die Reform die Zahl der Geschworenen-Verfahren von gegenwärtig drei Prozent auf 1,5 Prozent aller Gerichtsverfahren sinken.
Die Reformentscheidungen der Labour-Regierung riefen nicht nur bei der Oppositionspartei der Konservativen vehemente Kritik hervor, sondern auch bei jenen Anwaltsorganisationen, deren Mitglieder die Strafverfahren vor Gericht führen. Ein Argument lautet, die teilweise Abschaffung der Geschworenen gefährde Rechte, die englischen Untertanen schon in der Magna Carta gewährt worden seien – jener Urkunde aus dem frühen 13. Jahrhundert, in welcher der König dem Adel zugestand, künftig von seinesgleichen abgeurteilt zu werden.
Nun wird angemerkt, Richter repräsentierten, anders als zufällig ausgewählte Jurymitglieder, nicht den Querschnitt der Bevölkerung und seien demgemäß womöglich voreingenommen gegenüber einigen Angeklagten. Auch Abgeordnete der Labour-Partei argumentierten, der Wegfall von Geschworenen – die nur über den Grundsatz schuldig oder nicht schuldig entscheiden – werde es für Angeklagte schwerer machen, einem Schuldspruch zu entgehen.
Die zweite große Herausforderung für Lammy
Sie nannten als Beispiele Verfahren wegen Störung der öffentlichen Ordnung durch Klimaaktivisten, die von Geschworenengerichten für „nicht schuldig“ befunden worden waren. Dem Justizminister wurde vorgehalten, er habe vor acht Jahren – in einer Oppositionsrolle – selbst ein Gutachten propagiert, in dem festgehalten worden war, dass Geschworenengerichte als ein „Filter gegen Vorurteile“ wirken könnten.
Lammy argumentierte vor dem Unterhaus, auch künftig würden Anklagen wegen Kapitalverbrechen auf jeden Fall vor Geschworenen verhandelt. Dazu zählen neben Mord und Totschlag auch Vergewaltigung, schwerer Raub, Erpressung, Menschenhandel und schwere Körperverletzung. Er kündigte zudem an, die Betreuung von Kriminalitätsopfern und Zeugen solle verbessert werden. Nach einer jüngsten Studie sei weniger als die Hälfte der Verbrechensopfer zuversichtlich, dass ihnen Gerechtigkeit widerfahren werde. Nach Angaben des Justizministers soll die finanzielle Ausstattung des Justizwesens generell verbessert werden, sodass die Gerichte zusätzliche Sitzungstage anberaumen könnten.
Die Überlastung der Gerichte ist die zweite große Herausforderung für Lammy, nachdem vor wenigen Wochen die irrtümliche Freilassung von Strafgefangenen ein Schlaglicht auf den brüchigen Zustand der Strafanstalten geworfen hatte. Die Überbelegung der Gefängnisse führt überdies dazu, dass die meisten Strafgefangenen – Kapitalverbrecher ausgenommen – schon nach der Verbüßung von 40 Prozent ihrer Haftzeit mit einer vorzeitigen Entlassung rechnen können.
Source: faz.net