Rente und Freiheit: Der Enkeltrick mit jener Freiheit jener Abgeordneten

Ist das der neue Enkeltrick? Die Junge Gruppe der Union im Bundestag hält die Rentenpläne der Regierung weiter „für nicht zustimmungsfähig“, so verbreitete es die Gruppe der 18 Abgeordneten am Montag. Dabei bleibe es. Allerdings, so wird mit Blick auf die für Freitag vorgesehene Abstimmung hinzugefügt: „Allen freigewählten Abgeordneten kommt eine eigene staatspolitische Verantwortung zu.“ Und weiter: „Diese umfasst Rücksicht auf den Koalitionsfrieden und die weitere Regierungsarbeit in anderen wichtigen Politikfeldern und die Bewertung des Erreichten.“
Damit wird der Eindruck geschlossener Ablehnung aufgeweicht durch einen Hinweis, der – je nach Lesart – als taktischer Zug oder einfache Rückzugsmöglichkeit verstanden werden kann. Die Gruppe verweist indes nur auf Selbstverständliches, nämlich auf die Verfassungslage wie auch auf die Verfassungspraxis. Denn im Grunde stellt sich bei jeder (bedeutenden) Abstimmung im Parlament die Frage, was es denn mit der Stellung des einzelnen Abgeordneten auf sich hat. Das Grundgesetz legt nicht nur fest, dass die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. Es fügt auch hinzu: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Das könnte den Eindruck erwecken, der Bundestag bestehe aus Hunderten unabhängigen Parlamentariern, die sich bei jeder Abstimmung ihrem Gewissen folgend zusammenfinden oder auch nicht. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass Fraktionen in der Verfassung selbst nicht erwähnt werden und Parteien in der Weise, dass sie „an der politischen Willensbildung mitwirken“. Aber natürlich war schon den Vätern und Müttern des Grundgesetzes die parlamentarische Realität klar. Und es ist in Rechnung zu stellen, dass der Begriff der Freiheit auch hier in einem Zusammenhang zu sehen ist.
Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle
Die Abgeordneten sollen für das gesamte deutsche Volk entscheiden, es also gewissermaßen im Blick haben; sie sind nach dem Willen des Grundgesetzes nicht Vertreter von Partikularinteressen. Das wird im Rentenstreit ins Feld geführt – zugleich wird auch hier der Vorwurf der Vertretung partikularer Interessen erhoben.
Freiheit heißt zudem Freiheit von äußeren Einflüssen, auch staatlicher Art. Auch Freiheit von der Regierung. Der Status des Abgeordneten ist auch einklagbar. So kann etwa ein Parlamentarier gegen eine Auflösung des Bundestags vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, wenn er sie für grundgesetzwidrig hält.
Im Fall der Beobachtung des einstigen Bundestagsabgeordneten Bodo Ramelow durch den Verfassungsschutz, die ausschließlich mit dessen Mitgliedschaft und seinen Funktionen in der Linkspartei begründet wurde, hob das Bundesverfassungsgericht schon im Jahr 2013 hervor, dass zur Freiheit des Mandats auch die Freiheit der Abgeordneten von exekutiver Beobachtung, Beaufsichtigung und Kontrolle gehöre. Die einzelnen Abgeordneten seien zwar nicht von vornherein jeder exekutiven Kontrolle entzogen. „Diese ist jedoch in erster Linie eine eigene Angelegenheit des Deutschen Bundestages, der dabei im Rahmen der Parlamentsautonomie handelt.“ Zwar kann nach Ansicht der Karlsruher Richter auch eine Beobachtung im Einzelfall gerechtfertigt sein; sie unterliege jedoch strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen.
Damals habe, so das Bundesverfassungsgericht, das Bundesverwaltungsgericht im Fall Ramelow verkannt, dass „ein parteipolitisches Engagement, das seinerseits auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, diese stärkt. Dies gilt auch und gerade dann, wenn es in einer Partei stattfindet, in der unterschiedliche Kräfte und Strömungen miteinander um Einfluss ringen.“
Fraktionsdisziplin ist noch keine Unfreiheit
Selbstverständlich schließt Freiheit, auch die des Abgeordneten, Bindungen nicht aus. Entscheidend ist, dass er nicht rechtlich zu einem Verhalten, etwa in einer Abstimmung, verpflichtet ist. Nun dürften vertragliche Abmachungen zum Kauf von Stimmen eher selten vorkommen. Der Abgeordnete mag sich zahlreichen Zwängen ausgesetzt sehen und als Vertreter vielerlei Interessen sehen.
Er muss aber sein eigener Herr bleiben. Sich in Fraktionsdisziplin zu fügen, ist noch nicht Unfreiheit. Dass Fraktionen auf ihre Linie achten, ist deren Recht. Dass sie Abweichler nicht dulden müssen und auch sanktionieren können, liegt ebenfalls in der Natur der Sache. Andererseits sollte nicht der Eindruck erweckt werden, nur besondere, etwa von der Fraktionsführung festgelegte Fragen seien Gewissensentscheidungen, bei denen die Abstimmung großzügig freigegeben werde. So kann auch die Junge Gruppe niemanden verpflichten. Sie hat ihre Haltung kundgetan, zugleich aber auf die „eigene staatspolitische Verantwortung“ des einzelnen Abgeordneten verwiesen. Die Gewichtung muss jeder Abgeordnete für sich vornehmen.
Auch die Funktionsfähigkeit des Parlaments kann die Freiheit des einzelnen Abgeordneten einschränken. Man denke an Begrenzungen der Redezeit, aber auch an Ordnungsmaßnahmen gegen Parlamentarier, die sich nicht an die Regeln halten (die sich das Parlament selbst gegeben hat). Denn dass ein Parlament als Ganzes arbeiten können muss, ist auch ein Wert von Verfassungsrang, der die Tätigkeit seiner einzelnen Mitglieder einschränken können muss – auf verhältnismäßige Weise natürlich. Dass Freiheit und Gewissen mitunter inflationär bemüht und im Einzelfall vorgeschoben sein mögen, auch das kann Ausdruck von Freiheit sein.
Source: faz.net