Welt-AIDS-Tag in Armenien: „Wie eine verblühte Rose unter makellos Blumen“
Tigrans* zweites Leben beginnt im Februar 2023: Genau wie die Male zuvor betritt er das Beratungszentrum der New Generation NGO, wischt mit dem Test in seinem Mund herum und wartet. Doch dann ist plötzlich nichts mehr wie es war: Der Test zeigt zwei Balken – Tigran ist HIV-positiv.
„Es war eine ganz harte Zeit. Viel Angst und viel Traurigkeit“, sagt der schmächtige 20-Jährige mit den krausen schwarzen Haaren heute, zwei Jahre später, und schaut stumm auf den Tisch vor ihm. Wieder ist er hier im Behandlungszentrum, das mittlerweile an einen anderen Ort umgezogen ist. Mehr will er über seine Gefühle von damals nicht erzählen.
Seine Eltern weinen, als sie es erfahren. Bis heute rufen sie an und fragen, ob er seine Medikamente genommen hat. Davon abgesehen sprechen sie immer noch nicht über seine Diagnose, auch sonst erzählt Tigran kaum jemand davon. „HIV in Armenien zu haben, ist so, wie eine verblühte Rose unter lauter anderen Blumen zu sein“, sagt er, und ein trauriges Lächeln huscht kurz über das schmale Gesicht: „Niemand will mit dir reden, neben dir laufen, sie lehnen dich nur ab.“
HIV-Positive werden vom medizinischen Personal diskriminiert
Er lernt auf die harte Tour, dass das auch auf Ärzte und Schwestern zutrifft. Vor einer Nasen-OP verrät er dem Arzt, HIV-positiv zu sein. „Als die Schwestern es in meiner Akte gelesen hatten, behandelten sie mich sehr schlecht“, sagt Tigran und verschränkt die Arme, so als müsse er sich vor den Erinnerungen schützen. Anderen HIV-positiven Menschen in Armenien ergeht es sogar noch schlimmer: Ärzte oder Schwestern weigern sich gleich ganz, sie zu behandeln.
Im Beratungszentrum der New Generation NGO ist das anders. Die umgebaute Wohnung liegt in einem unscheinbaren Plattenbau, wie es in Armeniens Hauptstadt Jerewan so viele gibt. Unterhemden und Socken hängen an einer Wäscheleine im Stock darüber, in der Nähe viele stylische Cafés und schick gekleidete Menschen auf der Straße. Drinnen: Blumentapete in einem Aufenthaltsraum mit Sitzgruppe und Couch, Brettspiele, ein Aquarium in der Küche.
Ein Türschild aber fehlt: „Wir bringen keine Schilder an, wir veröffentlichen unsere Adressen nicht, weil es so viele Fälle von Diskriminierung, Bedrohung und Angriffen gibt“, sagt NGO-Präsident Sergey Gabrielyan. Die ruhige Stimme des kleinen Mannes im schicken schwarzen Hemd verrät nichts von den Erfahrungen, die seine Mitarbeiter und er immer wieder machen. Seit 1998 setzt sich New Generation für die LGBTQI-Community in Armenien ein, bietet Rechtsberatung, psychologische Betreuung und HIV-Prävention. Beschimpfungen und Morddrohungen in den Sozialen Medien gehören zum Alltag, berichtet Gabrielyan. 2018 wurde das Büro der Organisation angegriffen und ein Dienstwagen beschädigt.
Gewalt und Hass gegen queere Menschen
Auch Tigran kennt Wut und Hass – nicht nur weil er HIV hat: „Wenn man auf der Straße läuft, und Menschen einfach wegen deiner Kleidung oder deines Aussehens vermuten, dass du schwul bist, kannst du schon angegriffen werden“, sagt er. Auch New Generation hat nach eigenen Angaben zahlreiche Fälle von Bedrohungen und Gewalt gegen LGBTQI in Armenien registriert – manchmal sogar von der eigenen Familie.
Kaum jemand aus der Community geht da gerne wegen HIV zum Arzt, außer wenn es unbedingt sein muss. Sergey Gabrielyan erzählt von einem Klienten, der es notgedrungen tat. Beim Sex mit einem anderen Mann war das Kondom geplatzt, nun hatte der Klient Angst vor HIV. In der örtlichen Klinik suchte er Hilfe. „Der Arzt sagte, dass er den Vater des Patienten informieren würde, dass sein Sohn homosexuell sei und er ihn von dieser ‚Sucht‘ befreien müsse“, sagt Gabrielyan. Die NGO intervenierte, doch es war zu spät: Der Arzt kannte den Vater persönlich und hatte ihn bereits informiert. Sein Sohn floh aus Angst in ein anderes Land.
Während Gabrielyan erzählt, klingelt immer wieder die Türglocke. Einige junge Frauen und viele Männer, meist zwischen 20 und 30, laufen im Hintergrund durch den Flur. Monatlich kommen bis zu 300 Menschen in die drei Zentren von New Generation – Schwule, Lesben, trans* Personen, aber auch Prostituierte. Nicht jeder ist HIV-positiv. Viele kommen, weil sie Zeit mit Gleichgesinnten verbringen wollen. Aber auch für Gespräche mit der Psychologin oder für Rechtsberatung. Wer möchte, kann Kondome oder Gleitgel bekommen, sich vertraulich zum Schutz vor HIV beraten lassen – oder eben einen Test machen.
„Du musst den Test innen in Deinem Mund entlangstreichen“, erklärt ein Mitarbeiter einem Mann mit bunter Jacke und Drei-Tage-Bart im Nebenzimmer. Der Mann wischt mit dem Test im Inneren seines Mundes, dann steckt der Mitarbeiter ihn in einen kleinen Ständer mit Flüssigkeit. „Jetzt müssen wir 20 Minuten warten“, sagt er und nutzt die Zeit für eine kleine Aufklärungsstunde in HIV-Prävention, zeigt Kondome, Gleitmittel und erklärt die verschiedenen Ansteckungswege. Für viele sind die 20 Minuten trotzdem die längsten ihres Lebens.
HIV breitet sich in Armenien weiter aus
Über 12.000 Menschen haben sich dieses Jahr bisher bei New Generation testen lassen. Auch Leo* prüft hier immer wieder seinen Status, um auf der sicheren Seite zu sein. „In den staatlichen Krankenhäusern können Ärzte dir die Tür vor der Nase zuschlagen oder dich rausschmeißen, wenn sie nur vermuten, [dass du schwul bist]“, sagt der 20-Jährige im schicken Trenchcoat. Wenn er seine Geschichte erzählt, kämpft er damit, das Lächeln auf seinem offenen, freundlichen Gesicht zu bewahren.
Erst kürzlich war er sechs Monate in der Armee. In Armenien ist der Dienst noch immer für Männer verpflichtend. Leo ging dabei durch die Hölle: „Es gab Beleidigungen, Schläge. Die anderen Soldaten haben mir böse Dinge angetan und die höheren Ränge haben das gebilligt und manchmal sogar mitgemacht. Irgendwann habe ich an Selbstmord gedacht“, sagt er mit stockender Stimme. Die psychologische Hilfe durch die geschulten Mitarbeiter der NGO habe ihn gerettet.
Dabei geht es der LGTBQI-Community in Armenien besser als in vielen anderen Ländern der Region: Homosexualität ist hier nicht strafbar, Organisationen wie New Generation können legal arbeiten. Das HIV-Programm der Organisation wird vom Globalen Fonds gegen AIDS und Tuberkulose und dem armenischen Gesundheitsministerium finanziert. 2027 laufen die aktuellen Mittel aber aus, was Sergey Gabrielyan einige Sorgenfalten auf die Stirn treibt. „Wir wissen noch nicht, wie wir dann weitermachen werden“, sagt er. Zumal der Bedarf groß ist: Seit 2010 ist die Zahl der HIV-Infektionen um über 70 Prozent gestiegen. Letztes Jahr gab es 7.300 bekannte Fälle – bei rund 3 Millionen Einwohnern. Das staatliche Zentrum für Infektionskrankheiten behandelt Infizierte und gibt lebenswichtige Anti-AIDS-Medikamente aus.
Durch die Spalten in den Jalousien der Küche zieht die Dämmerung herein. In der Sitzecke im Aufenthaltsraum spielen einige junge Männer und Frauen Karten, auf dem Balkon wird geraucht. Bald wird auch Leo durch die braune Wohnungstür treten und in seinen normalen Alltag zurückkehren. Mit dem Traum, dass er als schwuler Mann irgendwann nicht nur im Zentrum von New Generation Wärme spürt, sondern auch in der Gesellschaft: „Ich wünsche mir, dass die Menschen toleranter, freundlicher zur LGBTQI-Community sein werden. Es ist nichts, was man sich aussucht. Man wird so geboren, wie man auch mit zwei Armen und Beinen geboren wird. Ich hoffe, dass die Gesellschaft das verstehen wird.“
*Auf Wunsch der Gesprächspartner wird ein selbstgewählter Spitzname verwendet.