ErbschaftsteuerReform: Die Nachfolge sichern, nicht den Mittelstand züchtigen

Wenn eine Professorin aus dem Kreis der „Wirtschaftsweisen“ eine abweichende Meinung im Jahresgutachten formuliert, lohnt ein genauer Blick. Veronika Grimm hat sich in ihrem Sondervotum zur Erbschaftsteuer mit bemerkenswerter Klarheit gegen die Mehrheit ihrer Kolleginnen und Kollegen gestellt – und sie hat recht. Denn wer in der aktuellen wirtschaftlichen Lage eine höhere Besteuerung von Betriebsvermögen fordert, gefährdet die Sub­stanz unserer mittelständischen Indus­trie und damit das Rückgrat der deutschen Wirtschaft.

Die Mehrheit des Sachverständigenrats schlägt vor, die Ausnahmen für Unternehmensvermögen in der Erbschaftsteuer zu reduzieren. Hohe Erbschaften sollen noch stärker besteuert werden, um mehr „Gerechtigkeit“ herzustellen. Was in der Theorie nach fairem Ausgleich klingt, übersieht die Realität in den Betrieben. In der Praxis träfe eine solche Reform nicht „anonymes“ Kapitalvermögen, sondern vor allem die Unternehmerinnen und Unternehmer, die ihre Betriebe in die nächste Generation übergeben – und damit Verantwortung, Arbeitsplätze und Innovationskraft erhalten.

Betriebsvermögen ist nicht liquide

In der chemisch-pharmazeutischen Industrie, in der viele Unternehmen familiengeführt sind, steht in den kommenden Jahren eine Welle an Nachfolgen bevor. Diese Betriebe investieren in Forschung, Ausbildung und Standortbindung – und das in einer Zeit, in der Deutschland ohnehin an Wettbewerbsfähigkeit verliert. Eine höhere Erbschaftsteuer auf Betriebsvermögen wäre in dieser Situation nicht nur unklug, sondern – um Grimm zu zitieren – „geradezu fahrlässig“.

Die Befürworter einer Reform argumentieren, die Steuerlast könne ja über Jahre gestundet werden. Das klingt technisch elegant, ist aber ökonomisch naiv. Denn die Finanzierung einer gestreckten Steuerzahlung bindet Kapital, das in den Unternehmen dringend für Investitionen, Innovationen und Fachkräfte gebraucht wird. In Zeiten hoher Zinsen, schwacher Nachfrage und wachsender Regulierung wäre das ein weiterer Schlag gegen die Substanz des Standorts.

Betriebsvermögen ist kein liquides Finanzvermögen. Es besteht aus Betriebsanlagen, Laboren, Produktionslinien – und vor allem aus Menschen. Eine Erbschaftsteuer, die dieses Vermögen antastet, greift auch in Beschäftigung und Forschung ein. Der Mittelstand reagiert nicht mit Dividendenkürzungen, sondern mit Investitionsaufschub oder Personalabbau. Das kann niemand ernsthaft wollen.

Es geht auch um Verantwortung

Gerade auch in der Pharmaindustrie geht es bei der Unternehmensnachfolge nicht nur um Eigentum, sondern um Verantwortung für den Standort und die Versorgungssicherheit. Wer heute ein forschendes oder produzierendes Familienunternehmen übernimmt, trägt dazu bei, dass Arzneimittel in Deutschland entwickelt und hergestellt werden können, mit hoher Qualität, kurzen Lieferketten, hoch bezahlten Arbeitsplätzen und resilienten Strukturen.

Die Politik betont zu Recht, dass sie die pharmazeutische Industrie im Land halten will. Doch eine höhere Erbschaftsteuer würde das Gegenteil bewirken: Sie erschwert die Nachfolge, gefährdet Investitionen und zwingt Nachfolgerinnen und Nachfolger, über Standortverlagerungen nachzudenken. Wer ernsthaft Versorgungssicherheit will, darf die steuerlichen Rahmenbedingungen für die Unternehmen, die sie garantieren, nicht verschlechtern.

Es ist legitim, über Verteilungsgerechtigkeit zu diskutieren. Aber Gerechtigkeit entsteht nicht dadurch, dass man erfolgreiche Familienbetriebe zusätzlich belastet, sondern indem man Bedingungen schafft, unter denen Leistung, Verantwortung und Beschäftigung auch in Zukunft möglich sind. Wer Unternehmen besteuert, die keine Gewinne, sondern Verantwortung vererben, verwechselt Substanz mit Luxus.

Veronika Grimm hat mit ihrem Minderheitenvotum Mut bewiesen. Sie hat ökonomische Vernunft über politische Symbolik gestellt. Eine Politik, die diesen Rat ernst nimmt, sollte nicht reflexhaft über neue Steuerquellen nachdenken, sondern darüber, wie man Investitionskraft, Nachfolgefähigkeit und Versorgungssicherheit erhält. Deutschland braucht keine Neiddebatte, sondern eine Standortdebatte. Und die beginnt mit der Einsicht, dass Erbschaften in Familienunternehmen kein Privileg sind – sondern eine Verpflichtung gegenüber Beschäftigten, Regionen und der Gesellschaft.

Nora Schmidt-Kesseler ist Hauptgeschäftsführerin der Nordostchemie-Verbände.