Äußerungen des Kanzlers: Was Brasilien uns reichlich Friedrich Merz lehrt

Manchmal geschehen in Deutschland sehr merkwürdige Dinge. Da hält der Kanzler eine Rede, in der er seine Sicht auf die Lage des Landes nahezu ins Gegenteil verkehrt, und was macht ebendieses Land? Es debattiert einen Nebensatz, der in diesem Zusammenhang auch fiel.
Zugegeben, geglückt waren die Sätze nicht, die Friedrich Merz auf einem Handelskongress über seinen Besuch auf der Klimakonferenz in Brasilien fallen ließ – zumal noch nicht einmal stimmte, was er über die mitgereisten Journalisten fallen ließ: dass sie allesamt so schnell wie möglich die Gastgeberstadt Belém wieder verlassen wollten. Einige hätten durchaus lieber ein paar Tage Urlaub zwischen kolonialer Altstadt, viel gelobten Restaurants und schicken Geschäften angehängt, die Merz offenbar übersah, als daheim wieder über Streitigkeiten in der Koalition zu schreiben.
Erstaunliche Töne für Merz
Aber viel bedeutsamer war doch, in welchen Kontext Merz das Beispiel stellte. „Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die Debattenkultur in unserem Land nicht völlig entgleist“, hatte er vorausgeschickt, um dann anzufügen: „Wir wollen bitte auch im Umgang miteinander gemeinsam Maß und Mitte halten.“ Die Botschaft, die er den versammelten Unternehmern vermitteln wollte, lautete: Hört endlich auf, den Standort immer nur schlechtzureden, so schlimm ist es doch nun auch wieder nicht.
Das sind erstaunliche Töne für einen Mann, der im Wahlkampf den Zustand des Landes noch in den düstersten Farben zeichnete. Hörte man ihm damals zu, hatte die Ampelregierung die Republik in einen Abgrund geführt, aus dem es ein neuer Kanzler nur mit maximalen Eingriffen in minimaler Zeit herausführen könne, wahlweise per Dekret am ersten Amtstag oder doch mindestens per Parlamentsbeschluss bis zur Sommerpause.
Sechs Monate für eine Wandlung
Die jüngste Einlassung des Kanzlers erinnert hingegen an den späten Helmut Kohl, der sich kurz vor der Bundestagswahl 1998 trotz der Wirtschaftsprobleme optimistisch zeigte. Bald kämen Millionen Deutsche aus dem Urlaub zurück, so Kohl: „Sie werden ein Land antreffen, in das sie gerne zurückkommen, das großartig ist und das sozialdemokratischer Miesmacherstimmung nicht entspricht.“
Das hört sich ganz so an wie Merz’ Einlassungen über die Journalisten, die angeblich dringend nach Deutschland zurückwollten. Nur zur Erinnerung: Von einem „Reformstau“ sprach ein SPD-Kandidat namens Gerhard Schröder damals.
Der Unterschied ist freilich, dass Kohl zu diesem Zeitpunkt schon 16 Jahre im Amt war, während Merz für seine Wandlung vom „Alles ist Mist“-Reformer zum „Alles gar nicht so schlecht“-Bewahrer gerade mal sechs Monate gebraucht hat. Man weiß gar nicht, worüber man mehr staunen soll, über die allzu forschen Ankündigungen des Kandidaten im Wahlkampf oder über die Geschwindigkeit, mit der sein Eifer in den Widrigkeiten des Alltags stecken blieb.
Zu diesen Friktionen zählen ja nicht nur die Wünsche der Sozialdemokraten oder die Ansprüche des eigenen Parteinachwuchses. Sondern auch ganz banale Dinge wie der Umstand, dass frisch zusammengewürfelte Ministerien eben nicht vom ersten Tag an voll arbeitsfähig sind.
Merz beklagt sich jetzt über eine Katastrophenstimmung im Land, die er durch frühere Auftritte zu wesentlichen Teilen mit herbeigeführt hat. Das ist vor allem eines: extrem schlechtes Erwartungsmanagement.
Dazu hat gewiss beigetragen, dass der exekutiv wenig erfahrene Merz die Schwierigkeiten praktischer Politik unterschätzte. Zugleich ist es die Folge eines Rollenwechsels, den nicht nur der Wirtschaftswende-Kanzler Kohl nach 1982 recht schnell vollzog, sondern auch die Radikalreformerin Angela Merkel nach der fast verlorenen Wahl 2005.
Folgenloses Untergangsgerede in Endlosschleife hilft niemandem, da hat Merz mit seinen neuen Erkenntnissen sogar recht. Aber dabei die Augen zu verschließen vor der Dynamik anderer Weltregionen, das hilft dann auch wieder nicht. Auch unter diesem Gesichtspunkt war die Brasilien-Kritik nicht glücklich.