Neue Stadt am Fuji: Wo Toyota an dieser Zukunft webt
Als die junge Frau bei Rot auf die Straße tritt, ertönt ein lautes Pfeifen. Die Fußgängerampel springt schnell zurück auf Grün. Der Bus, der gerade losfahren wollte, bekommt wieder ein rotes Licht gezeigt und hält an. „Die Ampel schützt die Fußgängerin“, sagt Koichiro Sumida voller Stolz. „In einer normalen Stadtumgebung könnten wir diese Ampel nicht betreiben. Aber wir sind hier auf Privatgelände. Deshalb müssen wir nicht alle Verkehrsregeln befolgen.“
Sumida arbeitet in der Kommunikationsabteilung von Toyota Motor. An diesem Tag zeigt er Journalisten den Ort, wo der größte Autohersteller der Welt sich für die Zukunft fit machen will. Woven City heißt das Retortenstädtchen, das der Konzern am Fuße von Japans ikonischem Berg Fuji aus dem Boden stampft. Bis ins Jahr 2020 stand hier noch eine Autofabrik. Als sie zugemacht wurde, versprach der damalige Vorstandsvorsitzende Akio Toyoda, das Gelände für eine „Stadt der Zukunft“ zu nutzen. Hier solle Toyota sich von einem Autohersteller weiter entwickeln zu einem umfassenden Mobilitätskonzern.
Es ist eine Antwort Toyotas auf die härter werdende Konkurrenz in der Autoindustrie. Mit neuen Technologien setzen Emporkömmlinge wie Tesla aus den Vereinigten Staaten und BYD aus China die Traditionalisten wie Toyota oder die deutsche Volkswagen AG schwer unter Druck. Autonom fahrende Taxis von Waymo, einer Schwestergesellschaft von Google, gehören im Silicon Valley längst ins Stadtbild. Mit der Woven City baut der japanische Branchenprimus nun einen Testparcours, auf dem er neue Mobilitätskonzepte in einer möglichst realitätsnahen Umgebung ausprobieren will – in einer eigenen Stadt mit Bewohnern, Geschäften, Restaurants und Büros.
2000 Einwohner für die Stadt der Zukunft
2000 Einwohner sollen hier dereinst wohnen, wenn das gesamte, 182.000 Quadratmeter große Gelände bebaut ist. Vor wenigen Wochen schloss Toyota die erste Bauphase ab. Etwa ein Dutzend Gebäude stehen auf einem Viertel der Fläche. Nach und nach sollen zunächst 300 Konzernmitarbeiter und ihre Familien in die Wohnblocks einziehen.
An diesem Tag im November verlieren sich ein paar Menschen zwischen den nagelneuen Häuserblöcken. Eine Frau spielt mit einem Kind auf einer kleinen Parkfläche, zwei Frauen unterhalten sich. Vor allem Bauarbeiter in Schutzanzügen und Helmen sind zu sehen. Die meisten Geschäfte stehen noch leer. „Einige Haushalte“ würden schon hier wohnen, sagt Sumida. Eine genaue Zahl nennt er nicht.
Für die Besuchergruppe düsen immer wieder einige Statisten auf neuartigen Elektrorollern mit drei Rädern die Hauptstraße entlang. Die Roller lassen sich lenken, indem man sich zur Seite lehnt. Kommerziell interessanter für Toyota sind die e-Palettes, kleine Elektrobusse, die in den Straßen ihre Runden drehen. Sie können sich autonom durch die Stadt bewegen, brauchen aber noch einen Fahrer am Steuer, der in Notfällen eingreift. Vorläufer der jetzigen Modelle erprobte Toyota 2021 während der Olympischen Spiele in Tokio im olympischen Dorf. In Woven City sollen die Kleinbusse Fahrpraxis gewinnen und auf möglichst viele Situationen hin trainiert werden, die im Stadtverkehr so vorkommen.
Wie Kühltruhen auf Rädern
Alle Gefährte kommunizieren mit der interaktiven Ampel, berichtet Sumida. Diese soll möglichst immer auf Grün springen, sobald sich ein Fahrzeug nähert. Im dichten Stadtverkehr ist das freilich schwer vorstellbar. Auch bei anderen Ideen, die Toyota an diesem Tag vorstellt, kommt schnell der Gedanke: Das ist eine schöne Idee, aber ist es wirklich praxistauglich?
Das gilt etwa für das „Guide Mobi“, das aussieht wie eine futuristische Kühltruhe auf Rädern. Das Gefährt kann autonom fahren und sich über eine Art virtuelles Abschleppseil mit einem Auto verbinden. Das Gerät solle zum Beispiel Carsharing-Autos fahrerlos von deren Parkplatz zu ihrem Fahrer bringen, erklärt einer der Entwickler. Auch im Flughafenparkhaus könne er sich den Betrieb vorstellen. Doch kann das Gespann bislang nur mit acht Stundenkilometern fahren. Auf öffentlichen Straßen würde es wohl vor allem als Verkehrshindernis wahrgenommen. Damit „Guide Mobi“ ein Auto vorfahren kann, müsste das auch mit allerhand Zusatztechnik ausgestattet werden.

Für eine smarte Logistik haben die Macher der Woven City unter den Gebäuden ein Tunnelsystem gebaut. Wie in einer Tiefgarage sollen sich hier autonom fahrende Logistikroboter bewegen und Pakete von der Wäscherei oder vom Supermarkt zu den verschiedenen Wohngebäuden in der Stadt bringen. Über eigene Aufzüge können die Roboter ihre Waren zu den eigens dafür vorgesehenen Postboxen bringen.
Die Idee ist nicht neu. Mit ähnlichen Transportrobotern hat auch schon der japanische Elektronikkonzern Panasonic in einer eigenen Modellstadt experimentiert. Der Entwickler in Woven City, der die Logistikroboter vorstellt, räumt ein, dass die Roboter sich aus Sicherheitsgründen bislang nur sehr langsam bewegen. Mit ihren menschlichen Vorbildern könnten sie deshalb noch nicht mithalten. „Dafür haben sie aber den Vorteil, dass sie 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche arbeiten können“, fügt er hinzu.
Kein Renditeobjekt
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wann das Ergebnisse liefern wird“, sagte Daisuke Toyoda auf der Eröffnungszeremonie im September. Er ist der Sohn von Akio Toyoda, der inzwischen den Verwaltungsrat von Toyota leitet, und agiert als geschäftsführender Vizepräsident von Woven City. Daisuke Toyoda hat angekündigt, selbst in die Stadt zu ziehen. „Wir könnten hier unerwartete Ergebnisse und Ideen sehen“, sagte er, „oder vielleicht auch nicht.“
Als Renditeobjekt ist Woven City nicht gedacht. Wie viel Geld Toyota sich das lebensgroße Testlabor kosten lässt, verrät der Konzern nicht. Anfang dieses Jahres sagte Akio Toyoda auf der Technikmesse CES in Las Vegas, dass das Vorhaben wohl keinen Gewinn abwerfen werde. Ihm ginge es vielmehr darum, eine vollständig nachhaltige Stadt zu schaffen, um Technologien der nächsten Generation zu präsentieren. „Wird diese Woven City Toyota Geld einbringen? Nun, vielleicht nicht“, sagte Toyoda, um dann in gewohnt großen Worten anzufügen: „Als Weltbürger glaube ich, dass Toyota die Verantwortung hat, in unsere gemeinsame Zukunft zu investieren.“
Mehrere andere japanische Unternehmen haben Quartier in Woven City bezogen, um mit viel Technik für die Zukunft zu experimentieren. Dabei geht es nicht nur um Mobilität. Das Kaffeeunternehmen UCC zum Beispiel hat ein Café am zentralen Platz eingerichtet. In eleganten Sesseln in Grau und Beige, umgeben von viel Naturholz, können die Kunden hier plaudern, lesen oder am Laptop arbeiten. Wenn sie sich in den hinteren Bereich des Cafés setzen, erklären sie sich zugleich bereit, als Versuchskaninchen zu agieren. Vier Kameras an den Decken und Mikrofone an den Tischen erfassen jede ihrer Bewegungen, was sie tun und sagen, und vor allem, wann sie dabei wie viel Kaffee trinken.
Ab dem wievielten Kaffee arbeitet ein Gast produktiver?
„Mithilfe von Künstlicher Intelligenz analysieren wir alle Daten, die wir hier bekommen können“, erläutert Taku Hanzawa aus der Forschungsabteilung des Kaffeekonzerns. Ab dem wievielten Kaffee arbeitet ein Gast produktiver? Welche Temperatur und welches Aroma wirken sich besonders positiv auf die Konzentration aus? Mit welcher Tasse Kaffee werden die Gespräche qualitativ hochwertiger? Solche Fragen wollen Hanzawa und seine Kollegen mit ihren Analysen beantworten können und so den perfekten Kaffee für jede Lebenslage entwickeln. „In einer normalen Stadt müssten wir ein Labor einrichten für eine solche Studie“, sagt Hanzawa. Doch dort würden die Teilnehmer sich kaum noch natürlich benehmen. Hier in der Woven City seien die Bewohner dagegen sehr aufgeschlossen für solche Experimente. 100 Kaffeebesuche hätten er und sein Team in den ersten Wochen schon analysieren können.
Der Klimaanlagenhersteller Daikin testet in einem Raum, wie sich mit Licht, Luftströmungen, Temperaturen und Düften das menschliche Wohlbefinden beeinflussen lässt. Mitarbeiter in Büros sollen so zu mehr Kreativität beflügelt werden oder Menschen in Hotels leichter entspannen können, sagt ein Daikin-Vertreter. Das Unternehmen Dydo , das die in Japan allgegenwärtigen Getränkeautomaten betreibt, probiert in der Stadt neue Geräte aus. Nutzer können sie über ihr eigenes Handy bedienen, und die Automaten verlieren die vielen blinkenden Knöpfe und Displays.
Ein Herzstück der Woven City ist das – nach dem japanischen Wort für Multiplikation benannte – Kakezan. In dem lichtdurchfluteten gemeinschaftlichen Arbeitsraum („Co-Working-Space“) sollen Toyota-Entwickler, die Bewohner der Stadt und die Vertreter der Gastunternehmen zusammenkommen, um gemeinsam neue Ideen zu entwickeln und weiterzuspinnen – pardon, zu weben, wie die Marketingleute von Toyota betonen. Schließlich erinnert der Begriff Woven City, auf Deutsch „gewobene Stadt“, an die Webstuhlfabrik, mit der Akio Toyodas findiger Urgroßvater Sakichi einst den Grundstein für das Unternehmen legte. Auch die Menschen in der Stadt werden als „Weber“ bezeichnet.
An einer Stellwand haben die Weber bunte Zettel aufgeklebt, auf denen sie aufgeschrieben haben, was sie von ihrem Leben in der Woven City erwarten. Auf einem der Zettel steht: „Eine sich immer weiter entwickelnde Stadt, in der die Menschen gemeinsam ihr Leben immer weiter verbessern.“