Hip-Hop | Haftbefehl ist wie Jesus – nur ohne Erlösung

Seit Wochen schon ist Babo, die Doku über das Leben des Rappers Haftbefehl aka Aykut Anhan das Medienthema Nummer eins im Land. Das überrascht zunächst. Welchen Nerv trifft dieser Film? Warum sind gerade jetzt so viele so fasziniert von dieser Selbsterzählung, bei der es um Drogen geht, um familiäre Probleme, Verbindungen in die Organisierte Kriminalität, noch mehr Drogen und das verzweifelte Ringen eines Mannes – 1985 geboren als Sohn von Einwanderern aus der Türkei – mit biografischen Wunden? Man kann darüber spekulieren. Aber zuvor noch eine Bemerkung zur Sache.

Im Gangsta- oder Straßenrap, dem Haftbefehl zuzuordnen ist, geht es um die Darstellung des Lebens im kriminellen Milieu, mal verherrlichend, dann wieder bedauernd. Es geht um durchsetzungsstarke Männer, oft mit Migrations- und ohne Bildungshintergrund, um Ausgrenzungserfahrungen, Straftaten mit Betäubungsmittelbezug und das Leben in sogenannten sozialen Brennpunkten. Es geht um Aufstieg gegen Widerstände – und um den Traum, mit dem Premiumsegmentwagen aus dem Viertel herauszufahren und in einer bürgerlicheren Einfamilienhausgegend ansässig zu werden.

Abschied von Bushido: Mit Haftbefehl wurden auch Rapper verletzlich

Die Währung dieses Spiels heißt Authentizität. Wer als Gangstarapper auftritt, ist besonders beliebt, wenn er eine ansprechende ästhetische Form, bedeutsame Inhalte und ein szenetypisches Auftreten mit einer plausiblen Hintergrundgeschichte verbinden kann. Der Rapper Bushido etwa – von Mitte der 2000er Jahre bis etwa 2012 der Prototyp des deutschen Gangstarappers – konnte auf der popkulturellen Bühne glaubhaft den kriminellen Problem-Migranten geben, weil er sich quasi-öffentlich mit der Berliner Unterweltgröße Arafat Abou Chaker zusammengetan hatte.

Haftbefehl hingegen, der Bushido mit seinem 2013 erschienenen Album Blockplatin entthronte, inszenierte sich nicht vordergründig in solchen Unterwelt-Affiliationen. Neben seinem eigenständigen Rapstil, der Wörter aus verschiedenen Sprachen mischte und sich – anders als damals üblich – auch durch lautmalerische Elemente aus dem Punk- und Hardcore-Bereich auszeichnete, fiel er im Genre unter anderem dadurch auf, dass seine Inszenierung nicht nur stereotype „Härte“ zeigte, sondern auch Verletzlichkeit. Tracks wie Depressionen im Ghetto oder Kaputte Aufzüge beschrieben die Perspektivlosigkeit des Aufwachsens im Brennpunkt ohne berufliche Aussichten recht illusionslos.

Genau bei dieser Verletzlichkeit macht der anderthalbstündige Film nun weiter. Bildgewaltig schildert er die Beschädigung von Haftbefehls Charakter durch den Tod des Vaters: Als Aykut 14 Jahre alt ist, nimmt sich der spielsüchtige Mann das Leben. Die Traumatisierung versucht der Junge durch Kokain zu kompensieren – eine Bewältigungsstrategie, die erst zur Gewohnheit und dann zur Sucht wird. Mit großer Transparenz zeigt die Dokumentation, wohin das führt, auch im Verhältnis zur eigenen Familie – Ehefrau und Tochter –, das als problematisch und zerrüttet erzählt wird: In seiner Sucht kopiert Haftbefehl unwillkürlich das Verhalten seines Vaters, glänzt wie dieser durch familiäre Abwesenheit. Unter Tränen erklärt die Ehefrau, sie habe von einer Trennung bis hin zum Wegnehmen der Kinder alles versucht – von ihrem Mann komme sie nicht los.

Drohungen, Erpressungen, Gewalt: Die Gangsta-Welt ist uns heute näher denn je

Was aber ist nun an dieser Geschichte dran, dass alle Welt seit Wochen von ihr spricht? Ist sie uns vielleicht heute näher, als sie es vor zehn oder fünfzehn Jahren gewesen wäre? Nicht nur aus Popkultur-generationellen Gründen, sondern weil uns die Elemente der „Straße“ – Drohung, Erpressung, Gewalt, Gehorsam, Verrat, Gruppenzwang und die längst sprichwörtlichen „Deals“– auch im Großen auf eine neue, bedrückende Weise im Hinterkopf sitzen?

Das ist, wie gesagt, Spekulation. Ziemlich offensichtlich aber bedient Babo nolens oder volens ein Grundmuster der – nicht nur – westlich-christlichen Tradition: Es ist eine säkulare Passionsgeschichte. Im Gegensatz etwa zu Bushido, dem glatten Mister „immer obenauf“, leidet hier einer in aller Sichtbarkeit. Er leidet an den Übeln und Verwerfungen unserer Gegenwart – an Ausgrenzung, an Traumata, an überforderter Männlichkeit und an dem, mit dem man all das vordergründig wegzumachen versuchen kann. Oder anders gesehen: Es gibt jemand sein Leben für die Projektionen verschiedener Publika.

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Aber apropos: Gibt es Erlösung? Im Film schickt sein Bruder den Protagonisten mit einem Trick für längere Zeit in eine Entzugsklinik. Bei seinem ersten Auftritt nach dem Hype um Babo verkündete Haftbefehl, er sei jetzt clean, alles ist gut – und lasst die Finger von den Drogen! Doch der Film und vor allem die „Debatte“ über ihn biegt vor der Auferstehung ab. Man bleibt lieber beim Elend, wenn etwa breit diskutiert wird, ob es denn legitim sei, die prekäre Situation eines Menschen in Szene zu setzen, der nicht von den Drogen loskommt und sich selbst und seinem Umfeld schwere Verletzungen zufügt? Nein, so sagen viele und weisen allen möglichen Beteiligten hinter der Doku wie vor den Bildschirmen eine Mitschuld an Haftbefehls Leiden zu. Nicht aber sich selbst, dem scheinbar unbeteiligten „Rest der Gesellschaft“.

Hier sind wir bei den Standards der öffentlichen Debatte um Gangstarap überhaupt. Das kriminelle Leben „auf der Straße“, die damit verbundene ausschweifende Sexualität, der Machismo und ganz generell die hierin vernommene Absage an neo-bourgeoise Werthaltungen provozieren schon immer strenge Moralisierungen aus dem bürgerlichen Journalismus. Das migrantisch geprägte Gangsta-Genre steht aus dieser Sicht für die Erosion „westlicher Werte“ oder gleich für den Untergang des Abendlands. Es gibt eine Sorge um Haftbefehl, aus der nur die Verdammung von Aykut Anhan spricht.

Elendsporno: Man kann „Babo“ auch gegen seinen Helden konsumieren

Auch das zählt also zu den Gründen der Allgegenwärtigkeit dieses Films: Er lässt sich auch gegen seinen Protagonisten konsumieren – als Elendspornografie, als eine Einladung zum moralisch begründeten Nach-unten-Abgrenzen. Und daneben ist noch eine ganze Reihe anderer, spezifischer Lesarten möglich: Handelt es sich um ein Hip-Hop-Biopic? Um einen Film über Drogenmissbrauch? Ein Familiendrama? Oder die Darstellung migrantischer Lebensläufe im kriminellen Milieu, eine Doku über die Musikindustrie und ihr Verhältnis zu ihren Stars?

Diese Vielfalt möglicher Interpretationsrahmen ist der eine Faktor für den unheimlichen Einschlag von Babo. Ein anderer ist die Eindimensionalität dieses Films. Fast unweigerlich gewinnt man den Eindruck, die Macher der Doku hätten einen Haufen faszinierender und/oder schockierender Szenen gesammelt und einfach die Kamera draufgehalten. Was die Zuschauer dann daraus machen, bleibt daher ihnen selbst überlassen.

Journalistisch wäre das schlicht katastrophal. Im gesamten Film gibt es nicht eine kritische Nachfrage – sieht man von dem Vorschlag eines der Stichwortgeber ab, Haftbefehl solle doch einen Entzug machen. Das Gezeigte wird nie in Kontexte gestellt – etwa in den Zusammenhang der deutschen Migrationsgeschichte oder Klassenstruktur. Die einzige wichtige Frau im Film ist die Haftbefehls, die als stets belastbares Auffangnetz für die Eskapaden ihres Mannes inszeniert wird.

Dieser Film drückt alle Knöpfe auf einmal – und lässt uns allein mit dem Chaos

Aber Babo ist kein Journalismus, sondern ein Ego-Manifest. Der Film soll, wie der Protagonist selbst sagt, nicht mehr oder weniger, als seine Geschichte aus seiner eigenen Sicht zu erzählen. Migration, Rassismus, Machismo, Geschlechtlichkeit, soziale Hierarchie, dysfunktionale Familienverhältnisse, die Bedeutung von Drogen und Rausch? Denkt doch, was ihr wollt! Babo drückt alle möglichen Knöpfe auf einmal, weckt Empörung, Faszination, Ekel, Bewunderung, Neugierde und Aversion zugleich: Eminem meets Escobar, Robin Hood und Familie Ritter.

Was Babo dagegen nicht kann und auch nicht können will, sind Erklärungen für irgendetwas. Selbst offensichtlich naheliegende Kernthemen wie Armut, Ausgrenzung und Stigmatisierung werden eher durch Schlüsselreize oberflächlich aufgerufen als in rationaler Weise angesprochen. Ihre Ursachen bleiben genauso im Dunkeln wie die Gründe, aus denen Lebenswege wie der von Aykut Anhan zur Überwindung all dessen nichts beitragen können, weil sie in Feldern wie dem Kokainschwarzmarkt spielen, in denen die Gewaltförmigkeit kapitalistischen Wirtschaftens nicht etwa konterkariert wird, sondern seine reinste Ausprägung erfährt.

Eine Tragödie ohne Erlösung: Das ist ein Sinnbild unserer düsteren Tage

So bleibt einerseits ein Künstler, der die Gepflogenheiten seines Genres durchbricht, indem er Einblicke in seine Drogen- und Familienproblematik gewährt, statt die coole Fassade zu wahren. Auch damit unterstreicht Haftbefehl seine Ausnahmestellung im Gangstarap. Doch auf der anderen Seite ist da ein Hype, der sich von krassen Darstellungen realen menschlichen Leids mehr unterhalten lässt, als dass er dieses befragen, verstehen oder gar abzuschaffen lernen wollte: eine Tragödie ohne Katharsis, eine Passion ohne Erlösung, ein treffendes Sinnbild düster werdender Zeiten.

Martin Seeliger ist stellvertretender Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen, forscht aber auch zu Popkultur. 2022 erschien Soziologie des Gangstarap. Popkultur als Ausdruck sozialer Konflikte