Ernährungsvorsorge: Geheime Vorräte für jedes den Notfall

Säckeweise Weizen, Roggen und Hafer, Linsen, Reis, Erbsen und Kondensmilch – all das lagert der deutsche Staat als eiserne Reserve ein. Im Ernstfall sollen diese Lebensmittel die Bürger vorübergehend mit dem Nötigsten versorgen. Ursachen für eine Versorgungskrise können militärische Konflikte, Naturkatastrophen, Epidemien oder Störungen der Infrastruktur sein. Die Erfahrungen aus der Ukraine zeigen, dass Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion in militärischen Konflikten gezielt angegriffen werden. Grundlage für die staatlichen Vorräte ist das Ernährungsvorsorgegesetz. Die staatliche Nahrungsreserve gibt es schon seit den Sechzigerjahren als Reaktion auf Krisenzeiten. „Auch wenn wir diese Notreserve noch nie gebraucht haben: Sie hat sich bewährt – sie ist unser Sicherheitsnetz im Ernstfall“, sagt ein Sprecher des verantwortlichen Bundeslandwirtschaftsministeriums.
Über die Vorräte ist jedoch wenig bekannt. Die genauen Mengen bleiben „aus sicherheitstechnischen Gründen“ geheim. Aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage aus dem Juli 2022 gehen dennoch einige Angaben hervor. Damals lagerten bundesweit rund 705.000 Tonnen Getreide (Weichweizen, Hafer, Roggen) hierzulande. Die Zivile Notfallreserve umfasste weitere 126.000 Tonnen Reis und Hülsenfrüchte sowie rund 5000 Tonnen Kondensmilch. Im Vergleich sind die Mengen relativ gering. In Deutschland werden derzeit rund 8,7 Millionen Tonnen Getreide im Jahr zu Nahrungszwecken verwendet. Die Notvorräte sollen jedoch explizit nur kritische Engpässe für eine begrenzte Zeit abfedern. Sie reichen je nach Produkt zwischen wenigen Tagen und mehreren Wochen, sagt das Landwirtschaftsministerium. Im Vergleich zum Jahr 1978 haben sich die Vorräte um 62 Prozent beziehungsweise 1,14 Millionen Tonnen Getreide reduziert, teilte die Bundesregierung 2022 mit.
Orte der Lagerhallen werden geheim gehalten
Wo sich die Lager befinden, wird ebenfalls geheim gehalten, um Plünderungen im Krisenfall zu verhindern. Bekannt ist, dass die Lagerung nach der Bevölkerungsdichte in den einzelnen Regionen ausgerichtet ist und dass Getreide in der Nähe von Mühlen gelagert wird. Die Lagerhallen mietet der Bund bei privatwirtschaftlichen Unternehmen an, heißt es von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE). Sie ist zuständig für die Lagerung und Überwachung. Alle zehn Jahre müssen die Vorräte ausgetauscht werden.
Die Wirksamkeit der Reserven in Krisenzeiten wird immer wieder diskutiert. Das Landwirtschaftsministerium räumt ein, dass bislang vor allem landwirtschaftliche Rohprodukte gelagert werden, die erst zu Mahlzeiten verarbeitet werden müssen. Dafür braucht es Logistik, Energie und Technik, die im Ernstfall nicht immer verfügbar sind. Die weltpolitische Lage habe sich drastisch verändert, die Entwicklungen erfordern eine entschlossene und vorausschauende Reaktion, heißt es.
Notfallreserve mit Dosenravioli?
Bundesminister Alois Rainer (CSU) hat deshalb vorgeschlagen, die Reserve um direkt verzehrbare und schon gegarte Lebensmittel zu erweitern. Damit könnte ein weiteres Sicherheitsnetz entstehen, das Versorgungsengpässe, etwa durch hybride Angriffe, noch schneller überbrückt. Sein Vorschlag für die Lagerung von Dosenravioli sorgte vor einigen Monaten für Diskussionen. Die Kosten für eine solche Reserve werden auf zusätzlich 80 bis 90 Millionen Euro jährlich geschätzt, zu den derzeitigen 30 Millionen Euro für die Lagerhaltung.
Die Lebensmittelwirtschaft soll dabei stärker eingebunden werden, damit deren Strukturen zur effizienten und stabilen Verteilung genutzt werden können. Die Branche zeigt sich offen, betont aber auch Grenzen. „Unsere Unternehmen verfügen über hocheffiziente Logistik- und Lagersysteme, die täglich rund 84 Millionen Menschen versorgen“, sagt Christoph Minhoff, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie: „Freie Kapazitäten gibt es nicht.“ Die Reserve dürfe nicht zulasten der Alltagsversorgung gehen. Zusätzliche Strukturen seien nötig, müssten aber vom Staat finanziert werden.
Verteilung von Nahrungsmitteln könnte im Krisenfall erschwert sein
Verhandlungen mit dem Lebensmittelhandel über eine bessere Lagerhaltung hält auch Henning Goersch für sinnvoll. Er ist Professor für Gefahrenabwehr und Bevölkerungsschutz an der Hochschule für Oekonomie und Management in Essen. Dadurch wären die Vorräte größer und besser verteilt. Der Bund könnte Anteile an den zusätzlichen Lagerkosten übernehmen, sagt er. Die staatliche Lagerhaltung hält Goersch grundsätzlich für sinnvoll, weist aber auf Probleme hin. Zwar existiere ein Konzept für die Verteilung und Weiterverarbeitung der Lebensmittel, „ob dies in einer Versorgungskrise reibungslos funktioniert, ist mit Zweifeln versehen“, sagt er. Blockierte Verkehrswege oder fehlende Einsatzkräfte etwa könnten die Verteilung erschweren: „Auch existieren nach meiner Kenntnis jenseits von Tabletop-Exercises und Stabsübungen keine aussagekräftigen Übungen, die die Verfahren in Gänze getestet hätten.“ Goersch schlägt den Ausbau der mobilen Betreuungsreserve des Bundes vor, um Menschen schnell und ortsunabhängig versorgen zu können.
Um auch in Krise und Krieg noch sicher Nahrungsmittel produzieren und transportieren zu können, ist aus Sicht der Bundeswehr eine resilientere Landwirtschaft notwendig. „Schon vor Eintritt einer eigentlichen Kriegshandlung können Betriebe durch hybride Angriffe wie Sabotage erheblich geschädigt werden“, sagt eine Sprecherin des Operativen Führungskommandos der Bundeswehr der F.A.Z. Die Versorgungskettenresilienz brauche Redundanzen: Lagerhaltung, alternative Transportwege, regionalisierte Erzeugung, Diversifizierung von Produkten. Es gelte, sich etwa gegen die Unterbrechung der Energieversorgung oder Cyberangriffe auf Kühlketten zu schützen und personell durchhaltefähig aufzustellen.
Stärkere Eigenvorsorge der Bürger?
Nicht zuletzt sind auch die Bürger selbst gefordert, sich für Ernstfälle zu wappnen. Henning Goersch plädiert für eine stärkere private Vorratshaltung. „Das wäre absolut flächendeckend dezentral und sofort verfügbar“, sagt er. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) empfiehlt, einen Notfallvorrat für mindestens zehn Tage anzulegen, mit Grundnahrungsmitteln wie Getreideprodukten, Konserven und Gemüse. Auch die EU-Kommission rät, Vorräte für mindestens 72 Stunden anzulegen.
Manche Nachbarländer setzen schon stärker auf die Eigenvorsorge der Bürger, etwa Österreich, Frankreich und Spanien. Schweden hat bislang auf zentrale Lager verzichtet. Im Oktober kündigte die schwedische Regierung dann aber an, wegen der Bedrohungslage durch Russland Notvorräte an Getreide im Norden des Landes anzulegen. Finnland gilt als Vorreiter in Sachen Lagerung. Hier reichen die Getreidevorräte für sechs bis neun Monate. Zudem sind Lager für Medikamente und Treibstoffe Pflicht. Norwegen baut nach längerer Pause seine Reserven wieder auf. In der Schweiz werden Unternehmen aus den Bereichen Getreide, Reis, Zucker, Speiseöle, Kaffee und Futtermittel gesetzlich verpflichtet, Grundnahrungsmittel für mehrere Monate einzulagern.