Rainald Goetz ist Peter Lustig
Er gehört zu den wenigen deutschen Schriftstellern, die sich an Experimente wagen. Nun hat Rainald Goetz es ein Jahr lang mit Instagram versucht – und ist dabei gescheitert. Leider.
Instagram ist ein wunderbares Schlachtfeld hohler Eitelkeit, tiefschürfender Erkenntnis und weitreichender kulturkämpferischer Kriegsschauplätze. Es ist schön, bunt und böse. Und wer als Großintellektueller naiv hineinstolpert, im Glauben, nur an seine kleine eckensteherische Bubble zu senden, verkennt, dass dort jedes Wort, jedes Bild, jeder Satz viral gehen kann. Für einen Schriftsteller mit verhängnisvoller (und für deutsche Verhältnisse wertvoller) Hingabe zur Popkultur und Populärem eine wunderbare Bühne. Aufregend also, dass ausgerechnet der mutige und ewig junge Rainald Goetz im November 2024 ein Experiment auf Instagram beginnt und es dieser Tage nach einem Jahr täglicher Posts beendet hat. Aura heißt das Ganze, und es ist die Geschichte eines vermeintlichen Triumphs – eine Geschichte, die am Ende schiefgeht. Aber auf eine symptomatische Art; sie zeigt, wie komplett im Eimer der deutschsprachige Literaturbetrieb ist.
Aber der Reihe nach: Wer seine literarische Karriere kameratauglich beginnt, indem er sich beim Wettbewerb in Klagenfurt mit einer Klinge die Stirn aufschneidet, wird von seinen Fans ans Image des Rebellen gekettet. Er, der mit „Irre“ für die Generation der im Punk Sozialisierten den Gegenwartsroman geschrieben hat, war eine Art Eichmaß des Unangepassten. Jede Form der Anpassung wird als Verrat wahrgenommen.
Goetz ist mittlerweile 71 Jahre alt, hat alle wichtigen Preise erhalten und wird als Klassiker der deutschsprachigen Gegenwartsautoren gehandelt. Aus der Unversöhnlichkeit Goetzscher Jugendwerke, die er allesamt als Thirtysomething geschrieben hatte, ist etwas unheroisch Mildes geworden. Goetz war immer beides – unglaublich jung in der Neugier, unglaublich alt (oder neoklassisch) im Anspruch.
Deswegen waren seine konstanten Ausflüge in die Popkultur und deren Schreibweisen viel beachtete Experimente, weil sich Goetz, egal wie weiß gefärbt die Haare und wie grün die Bomberjacke waren, eben als doppelpromovierter Vertreter des Münchner Bildungsbürgertums diesen neuen Formen aussetzt. 1998 schrieb er einen Blog ins Internet, der überarbeitet als „Abfall für Alle“ erschien. 2007/2008 kam der Blog „Klage“ auf der Homepage des Magazins „Vanity Fair“, und nun ein Jahr lang ein digitales Fotoalbum mit zum Teil umfangreichen Bildunterschriften auf Instagram.
So klingt der frühe Goetz: „Wir brauchen keine Kulturverteidigung. Lieber geil angreifen, kühn totalitär roh kämpferisch und lustig, so muss geschrieben werden, so wie der heftig denkende Mensch lebt. Ich brauche keinen Frieden, weil ich habe den Krieg in mir. Am wenigsten brauche ich die Natur. Ich wohne doch in der Stadt, die wo eh viel schöner ist. Schaut Euch lieber das Fernsehen an. Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop.“
Als Goetz in den frühen 1980er-Jahren seinen ersten Roman schrieb, war der Begriff „Literatur“ für viele seiner Weggefährten ein Anachronismus. Seine Freunde lachten über das Wort „Roman“, als gehöre es einer vergangenen Epoche an. Doch Goetz empfand den Spott als Herausforderung: „Stand ich dann vor solchen Bildern, fühlte ich mich überwältigt und berechtigt, denn was ich da gemalt sah, war das genau, was ich hinschreiben wollte.“ Er fand in den Bildern junger Maler, Kippenberger oder Oehlen, eine Energie, die der eigenen Sehnsucht entsprach. So wurde die Malerei für ihn nicht nur Inspirationsquelle, sondern gleichsam die Sprache, die er als Schriftsteller zu erreichen versuchte.
Im „Wortknast“ gefangen, beneidet er die bildenden Künstler um ihre Freiheit. „Ich muß Worte schreiben, ich arme Sau, und aus meinem Worteknast grüße ich die FacharbeiterFickenMaler hoch oben in Hamburg.“ Wo andere Schriftsteller die Sprache als höchste Form der Darstellung betrachten, benutzt Goetz die Bildlichkeit als Ventil gegen den Begriffsschwachsinn akademischer Kunstrede. Er schreibt gegen das Reden über Kunst, indem er selbst eine visuelle, flirrende Sprache schafft, die an den Grenzen ihrer Verständlichkeit auseinanderreißt und so den Bildcharakter der Literatur erfahrbar macht. „Jetzt erst zeigten sich die Bilder wirklich in ihrer unbedingten schönen Kraft“, heißt es in „Kadaver“. Goetz surft gern entlang der Grenzen der Sprache. Sehen ist so viel einfacher als Sprechen, und man spürt die Melancholie eines Autors, der das Unsagbare in Worte bannen will. Während die Sprache verzweifelt auf der Suche nach der Wahrheit ist, herrschen die Bilder „in der Macht des ja des Sichtbaren als schöne Könige“.
Und: „Alles richtig sehen, heißt also, in Bildern Denken derart sehen, wie Bilder wirklich, hermetisch abgetrennt von ihrer Position im Sagbaren, stumm in dem Maß der Nichtsvernichtung sichtbar, ihr Wissen sichtbar zeigen.“ Dieses „richtige Sehen“ ist für Goetz der Triumph über die Blindheit der Sprache. Indem er Kunst und Fotografie in seine Bücher einwebt, versucht er, das Unsichtbare im Wort sichtbar zu machen. Seine literarischen Arbeiten werden so zu offenen Kunst-Räumen, in denen das Schreiben selbst zum Bild wird. Literatur flieht hinaus in die Welt, um all das, was sie erlebt, gesehen und geliebt hat, wieder zu einem Teil dessen zu machen, wovor sie geflohen ist: zu Literatur.
Die Popliteratur, in der Goetz stets campierte, aber nie real einzog, war als Flucht aus dem Elfenbeinturm in den hedonistischen Dschungel der Gegenwartsästhetik und der wüsten Subkulturen angelegt. Die Vorbilder von Goetz – von Warhol über Brinkmann bis Herbert Achternbusch – waren weniger an der Trennung künstlerischer Disziplinen interessiert als an deren symphonischer Vielfalt. Goetz, der Fotograf, der Maler und Zeichner, der Comic- und Kinofan machte Instagram in seinen Romanen und Texten, bevor es das soziale Medium gab.
Das Andere der Literatur war für Goetz das Wesen der Literatur. Für DJs wie Sven Väth trug er den Plattenkoffer, mit dem gebildeten DJ Westbam, eigentlich Maximilian Lenz, schrieb er ein Buch. Der Journalismus wird von Goetz fast religiös konsumiert, und die Ausflüge in die Publizistik waren trotz wachsenden Ruhms gekennzeichnet von einem totalen Einlassen auf Logik und Sprachspiele des jeweiligen Mediums. In seinem Jahr bei „Vanity Fair“ (dessen Chefredakteur ich damals war) war Goetz ein vorbildlicher und bescheidener Kollege, wie sich das kaum einer der vor Ehrfurcht erstarrten jungen Kollegen hatte vorstellen können. Er war immer da, mit ein, zwei Notizblöcken ausgestattet, um alles aufzusammeln aus einem jener Sozialexperimente, in die sich Goetz in der Verweigerung der klassischen Schriftstellerexistenz hineinwarf: als Raver, Maler-Groupie oder eben als Redakteur einer irgendwie anspruchsvollen Lifestyle-Marke wie „Vanity Fair“.
Goetz hat es sich nie so bequem gemacht wie andere erfolgreiche Schriftsteller, und doch ist sein Instagram-Feed eben auch das Dokument eines Scheiterns. Und zwar an den harten gesellschaftlichen Realitäten, die den Westen gerade überall an den Rand bringen. Soziale Medien sind keine Orte des Staunens und des Ausgleichs, sondern Aufmarschgelände von Ideologien und Hasspredigten. Es ist bezeichnend, traurig und auch ein wenig rührend, wie sehr und wie tief sich Goetz unter diesen Herausforderungen privatistisch hinwegduckt. Während Goetz sich früher, besonders intensiv in den 80er- und 90er-Jahren auch bildsprachlich in eine bewusst falsche Assimilation mit ihm fremden Bildwelten und Ästhetiken eingelassen hat, auch in der Verkleidung als munterer Rave-Onkel, bleibt sein Feed auf konservative Art derart statisch und essayistisch in der Bildsprache, dass man den kommenden Edition-Suhrkamp-Klassiker schon vor Augen hat.
Der Intellektuelle als Staunender wirkt aufgesetzt, weil Goetz eine Art Umgehungsstraße in die Naivität baut, die ihm am Ende zum Verhängnis wird. Diese Poetik von „hier stehe ich, staune und urteile nicht“ versucht, sich selbst in Schutz zu nehmen.
Als es ernst wird, versagt Goetz. Einmal wagt er sich auf eine der Hauptbühnen von Instagram und greift als Public Intellectual in eine der (für wenige Tage) großen Debatten der Berliner Republik ein. Er vermöbelt pointiert und sachdienlich die später gescheiterte Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht. Es geht um einen Auftritt bei Markus Lanz. „Dann sitzt da bei Lanz bebend, rhetorisch geübt, zugleich kindhaft egoman eine Frau, die offenbar über ihr Ich so wenig weiß, daß sie glauben kann, mit einem solchen AUFTRITT der Öffentlichkeit vorzuführen, wie geeignet sie für das Amt am Verfassungsgericht ist. Aber man sieht übergrell einen Mangel an Selbstreflexion, Selbstrelativierung, alltäglichem Weltverstehen, erstaunlicherweise auch ein Defizit an Erkenntnis der gegenwärtigen Gesellschaft, insgesamt an Reife. Dieser Mensch ist auf eine Art UNREIF.“
Jeder Satz ein Treffer und fernes Echo jener Härte, mit der Goetz als Schriftsteller über Freunde, Feinde, Kollegen und Fans hergezogen ist. Wie immer bei den sympathischen Hassattacken schimmert die Projektion durch, weil diese Sätze auf so wunderbare Art und Weise das Scheitern von Goetz an Instagram beschreiben könnten. „Wie vom Standardfall gescriptete, zugleich spektakuläre Eskalation …: sie verteidigt sich auf eine Weise, die ihr selbst schadet. Sie greift die Medien an mit einem anwaltlichen Schriftsatz; sie setzt bei Lanz auf ihre Persönlichkeit; und sie bestellt bei Kollegen ein Plagiatsgutachten zu ihrer Entlastung. In allen drei Fällen zeigt sich, daß sie nicht versteht, wie ÖFFENTLICHKEIT funktioniert. Das würde man von einer 54-jährigen renommierten Rechtsgelehrten aber erwarten. Insbesondere ein Wissen davon, dass in der öffentlichen Arena fundamental andere Verfahrensregeln herrschen als vor Gericht und im wissenschaftlichen Diskurs.“
Diesen einzigen wichtigen Post, der Goetz klarmacht, auf welcher Bühne er sein privatistisches Kleinsttheater aufführt, löscht er. Warum? Wohl weil es für ihn überraschend war, dass er damit auch auf einer konservativen Medienseite wie „Nius“ rezipiert wurde, deren Chefredakteur das Werk von Goetz liebt. Als der Hass seines Herkunftsmilieus über ihn hineinbricht, weil es ihn (absurderweise) zum Teil einer rechten Verschwörungserzählung macht, knickt Goetz ein. Er verrät sich selbst, auf bittere Art und Weise. Und kommt in einer Mischung aus Peter Lustig und Loriot im Elend der Selbstironisierung an, jener Todeszone des Intellektuellen, die Goetz immer verachtet hat.
„Wollen Sie mich beleidigen? Wer? Sie! Ich? Ja Sie! Ja!“ und dann: „Nehmen Sie das eventuell zurück? Wer? Sie! Ich? Ja Sie! Nein!“ Und: „Dann ist der Fall für mich erledigt.“ Auf den Verrat des heiligen Eides von Quod scripsi scripsi folgt die Selbstdemütigung wie in Zeiten der chinesischen Kulturrevolution. Legte sich Goetz noch in den 90er-Jahren mit den Anfängen der politisch-korrekten Shitbürgerei in der Kult-Popzeitschrift „Spex“ an und mit dem identitätspolitischen Gender-Quark in der Akademiker-Selbstbefriedigung namens „Texte zur Kunst“, bückt er sich jetzt weg.
Er ist damit nicht allein; es ist die Selbstaufgabe des gesamten Milieus. Auch Weggefährten wie Diedrich Diederichsen sind nur mehr wortgewaltige Vertreter des Zeitgeistes, die jeden kaputten Quatsch mitmachen. Besonders deprimierend wird das nach dem 7. Oktober 2023, als sich die moralische Verkommenheit und die opportunistische Nullnummerei des Literaturbetriebs sowie des gesamten Kulturwesens bis auf wenige Ausnahmen offenbart. Rainald Goetz lässt auch den von ihm verehrten Maxim Biller hängen, als der von seiner eigenen Redaktion für eine Kolumne gecancelt wird, die in ihrer Polemik gerade von Goetz hätte verstanden und verteidigt werden können. Stattdessen nichts, oder so heitere Einträge, wie ihm auf Mallorca Oliven auf den Kopf fallen. Wahrscheinlich direkt neben die Narbe der Klagenfurt-Wunde.
Noch nie war der Literaturbetrieb so verkommen, noch nie war er so dumm, noch nie war er so opportunistisch, noch nie war es so gebückt und uninteressant. Und doch tänzelt Goetz begeistert über die Frankfurter Buchmesse und selfiet sich durch die Gänge. Alles ist gut und schön und fein.
Göring-Eckardt in männlich
Goetz war ein Großmeister der Feindschaft und des Hasses, dann der Freundlichkeit und nun eben der Feigheit und der Konfliktscheu. Vielleicht soll und muss das so sein. Sein Werk bleibt, aber man muss das Spätwerk am Frühwerk messen können und vor allem an der Schwingung in der Gegenwart. Und dort macht Goetz wie seine schlappen Kollegen und seine Literaturgroupies und An-den-Lippen-Hängern den Eskapismus ins Würstchen-Dasein und die Würstchenexistenz mit: mit großer Klappe, Let-It-Rock-Tattoos, Schnauzbärten und verkrachten Romanexistenzen, die am Ende nur Katrin Göring-Eckardt in männlich sind.
Hätte Goetz den Brosius-Post nicht gelöscht und aus den Reaktionen das eigentliche Thema dieses „Aura“ Projektes gemacht – wir alle hätten viel über die Gegenwart lernen können. Goetz weiß das: Große Kunst entsteht im Konflikt, dem Kampf, der Aggression, der absoluten Unerschrockenheit. Der Rest ist Kalenderblatt und Poesiealbum für den akademischen Mittelbau.
Der Autor ist mit Rainald Goetz seit über dreißig Jahren befreundet.
Source: welt.de