Ein Schatz, von dem 320 Jahre weit niemand irgendetwas wusste
Sensation: Zwei wiederentdeckte Original-Werke Johann Sebastian Bachs wurden in der Thomaskirche in Leipzig aufgeführt. Wie sie klingen – und was der isländische Bach-Virtuose Vikingur Olafsson dazu sagt.
Gut Musikwissenschaftler-Ding will Weile haben, ganz besonders bei Johann Sebastian Bach. Obwohl der ja eigentlich ein Schnellschreiber war: Eine Kantate pro Kirchenjahrwoche war nebst diversem, meist lästigem Alltagsgewerke schon drin. Das summierte sich, weit mehr als 1000 Opus-Zahlen hat heute das offizielle Bach-Werkverzeichnis, über welches das Bach-Archiv zu Leipzig wacht. Seit dem 19. Jahrhundert wurde dieser Schatz der Menschheit aus den verschiedensten Quellen meist in Mitteldeutschland geborgen: Da, wo Bach eben vorwiegend für „Solo Deo Gloria“ – „einzig zum Ruhm Gottes“, und einen eher schäbigen weltlichen Obolus, lebte und arbeitete.
Zuletzt gelang Michael Maul, dem eloquenten Intendanten des Leipziger Bach-Festes, 2005 in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zu Weimar mit der Arie „Alles mit Gott und nichts ohn’ ihn“ BWV 1127 die Entdeckung eines zweifelfrei originalen Bachwerks. 1985 fand der auch jetzt in Leipzig anwesende Bach-Forscher Christoph Wolff 38 Choralvorspiele, die er aufgrund von Quellen-Indizien Bach zuschreiben konnte.
Und jetzt wurden, passenderweise zum 75. Geburtstag des Bach-Archivs, einer DDR-Gründung, an der Orgel der Thomaskirche, unweit des Bach-Grabs zwei neu zugeschriebene Orgelwerke aus der Frühzeit vorgestellt. Und zwar vom von Niederländer Ton Koopman, der seit 2019 auch als Präsident des Bach-Archivs fungiert, im Rahmen eines live gestreamten Festaktes vorgestellt. Beides Chaconnen, wohl um 1703 in Arnstadt entstanden, die nun als Ciacona in d-moll bzw. e-moll die Opus-Zahlen BWV 1178 und 1179 tragen dürfen.
Entdeckt hat die etwa 14 Minuten Spielzeit umfassenden Stücke bereits vor 30 Jahren Peter Wollny, heute Direktor des Leipziger Bach-Archivs, in der Königlichen Bibliothek zu Brüssel als Abschriften in einem Band von wohl um 1700 in Thüringen gesammelter Orgelmusik. Vieles, auch Papier und Wasserzeichen, vor allem aber die akribisch verglichene Faktur der Musik sprach für den jungen Bach. Aber letzte Gewissheit, vor allem über den Urheber der Abschrift, fehlte – bis vor ein paar Monaten.
In einer endlich wieder zugänglichen Akte des Archivs der Familie Hohenlohe im Schloss Neuenburg fand sich die Gewissheit: Die Noten stammten von einem Salomon Günther John. Von dem weiß man aufgrund eines Bewerbungsschreibens für eine Organistenstelle in Schleiz, dass er just zu der Zeit in Arnstadt und Weimar das Orgelspiel gelernt hatte, als der junge Bach dort offiziell angestellt war. Als Bewunderer und womöglich Schüler hat er vermutlich dessen später verloren gegangene Originalnoten wohl um 1705 abgeschrieben – und wurde nun zu einer Fußnote der Bachforschung.
Das war das letzte Puzzleteil, um nun die nötigen Qualitätszahlen, eben die offizielle Opus-Nummern des hochseriösen Bach-Archivs, für die bisher zweifelhaften Stücke zu vergeben. In Leipzig freuten sich ein wie stets überschwänglicher Bundeskulturminister („Sternstunde der Menschheit“), die sächsische Kulturministerin wie der Oberbürgermeister darüber, Professor Wolly berichtete eher sachlich.
Ton Koopman spielte die zwei intrikaten Stücke des wohl 18-jährigen Bach, die durchaus schon auf die ungleich berühmtere c-moll-Passacaglia BWV 582 hinweisen, abschließend noch einmal: zwei komplex polyfone Sätze, benannt nach einem möglicherweise aus Mexiko stammenden Tanz, der als eine Variations-Form im Dreiertakt via Frankreich im späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts in die Barockmusik Einzug hielt.
Typisch für die Chaconne ist eine Ostinato-Bassmelodie mit einem sich ständig wiederholenden Harmonieschema von vier bis acht Takten, das auch der innovative Johann Sebastian Bach hier anwendet. Der ist zwar als Meister nicht vom Himmel gefallen, doch konnte er bereits in seiner Lehrzeit sehr viel, was das spätere Genie prädestinierte. Da gerade aus diesen eher dunklen Jahren eines nur schütter vorhandenen Frühwerks diese, nun nach 320 Jahren wohl erstmals wieder erklungenen zwei Werke nun offiziell hinzukamen, begeistert natürlich. Und ist eine kleine Sensation, die sicher bald offiziell auch aufgenommen werden und zukünftig öfter zu hören sein wird.
Die Organisten werden sich freuen, aber selbst ein ausgewiesener Bach-Klavierspieler, wie der gerade in Berlin mit seinem aktuellen Bach/Beethoven-Programm gastierende isländische Tastenstar Vikingur Olafsson ist sehr neugierig geworden: „Das muss ich mir unbedingt ansehen“ meinte er noch abends gegenüber WELT, seine Vorfreude nicht verbergen könnend. Die offizielle Werkedition erschien am Montag im Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel.
Jetzt muss man, obwohl es da noch einiges zu entdecken gäbe, wohl wieder 20 Jahre auf den nächsten Bach-Fund warten. Als Blaue-Bach-Mauritius hoffen die Forscher wohl weiter allerdings vergeblich auf die Entdeckung der 1731 in Leipzig uraufgeführten dritten, der Markus-Passion, die sogar bereits die (provisorische) Nummer BWV 247 trägt. Doch während das Libretto von Picander in einer Gedichtsammlung vollständig erhalten ist, gilt die Musik wohl endgültig als verschollen.
Source: welt.de