Schillernd, skandalös, doppeldeutig – welches hinterm Trend zum Naked Dress steckt

Sydney Sweeney und Heidi Klum im Naked Dress: Während Tradwives von Landleben und Züchtigkeit träumen, feiert auf Laufstegen und rotem Teppich der nackte Körper ein Comeback. Der Trend zeigt, wie widersprüchlich Weiblichkeit heute inszeniert wird.

Es ist schon seltsam: In einer Phase, in der selbst ernannte Tradwives und Homestead-Frauen in den sozialen Medien eine Zurück-aufs-Land-Bewegung ausrufen und sich nach einem Leben zu sehnen scheinen, das von Gartenarbeit, häuslichen Pflichten und züchtiger Kleidung geprägt ist – ausgerechnet in einer Zeit also, in der traditionelle Rollenbilder und lange als überholt empfundene, vermeintlich weibliche Tugenden wieder aufleben, kehrt das freizügige „Naked Dress“ als modisches Statement auf die Laufstege und die roten Teppiche zurück.

Das Nacktkleid, auch „Nude Dress“ oder „Barely There Dress“ genannt, weil er kaum vorhanden zu sein scheint, umhüllt den Frauenkörper wie ein Hauch von Nichts mit durchsichtigem Stoff und garantiert damit einen Auftritt, über den gesprochen wird. In den vergangenen Wochen kam es zu einer derart auffälligen Häufung solcher Auftritte, dass in US-Medien schon von einem „transparent chic“ die Rede war.

Bei der Show von Vetements im Rahmen der Pariser Fashion Week trug Heidi Klum ein eng anliegendes, silberdurchwirktes, transparentes Kleid des Labels, darunter nur einen hellen Slip. Zur Spendengala des Los Angeles County Museum of Art erschien die Saturday-Night-Live-Komikerin Kristen Wiig in einem durchsichtigen, schwarzen Spitzenkleid von Rodarte – auch hier war der Slip sichtbar.

Für denselben Anlass hüllte Demi Moore sich in eine schwarze, semi-transparente Gucci-Robe, bestickt mit bunten Paillettenblumen. Die „Barbie“-Darstellerin Margot Robbie wiederum zeigte sich bei der Premiere ihres neuen Films „A Big Bold Beautiful Journey“ in einem metallisch schimmernden Armani-Outfit, das den Rücken bis zum Poansatz freilegte.

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Als Nacktkleid des Jahres gilt Sydney Sweeneys quecksilbriges „Twisted Crystal Mesh Tee“ vom Designer-Gespann Christian Cowan und Elias Matso, getragen bei der einer Gala der Branchenpublikation „Variety“ in Hollywood. Das Kleid bestand komplett aus kristallener Gaze und wurde durch eine verdrehte Taille akzentuiert, die Sweeneys Brüste hervortreten ließ. Die Intention sei gewesen, „den Körper so zu manipulieren, als wäre er ausgewrungen wie ein Handtuch“, erklärte Cowan im Anschluss.

Die Liste der Stars, die sich in jüngster Zeit in einem ähnlich freizügigen Outfit präsentiert haben, reicht von Lily Allen und Anne Hathaway über Taylor Swift und Dakota Johnson bis hin zu Dua Lipa und Rihanna. Nie zuvor, schreibt „Cosmopolitan“, hätten so viele Prominente „Nude Dresses“ getragen wie bei den diesjährigen MTV Music Awards.

Man kann es ihnen kaum verübeln. Der Körper ist eine herrliche Bühne – und welche Garderobe würde ihn besser zur Geltung bringen als ein Naked Dress? Doch während es einst wenigen Auserwählten vorbehalten war und für einzigartige Momente sorgte, in denen sich Irritation und Bewunderung mischten, ist es heute zum modischen Standard geworden, das alles zeigt und doch nichts preisgibt – und damit mehr über den Zeitgeist des permanenten Ringens um Aufmerksamkeit aussagt als über die Persönlichkeit seiner Trägerin.

Das Kleid der Königin

Die Ursprünge dieses Modephänomens lassen sich bis in die Zeit der absolutistischen Monarchie in Frankreich zurückverfolgen. Als Vorläufer des Naked Dress gilt die „Robe de gaulle“ von Königin Marie Antoinette – ein den Körper locker umspielendes, weißes Kleid aus Musselin, skandalös im ausgehenden 18. Jahrhundert, als Frauenkörper in disziplinierende Korsette und Krinolinen gezwängt wurden. Die Robe de gaulle war ein damals aristokratisches Privileg: Nur eine Königin konnte es sich leisten, das zu tragen, was sie wollte und worin sie sich wohlfühlte – verewigt wurde das Kleid auf einem berühmten Gemälde von Élisabeth Vigée Le Brun.

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hielt das Naked Dress Einzug in die sich rasant entwickelnde Unterhaltungsindustrie. Vaudeville-Darstellerinnen, Flapper Girls und Stummfilmstars trugen transparente Kostüme – etwa Clara Bow, das erste It-Girl der Filmgeschichte, im Lustspiel „My Lady of Whims“ aus dem Jahr 1925. Denkwürdige Auftritte in Nacktkleidern hatten in der Folge Mae West, Marlene Dietrich und später auch Marilyn Monroe – zunächst in der Crossdressing-Komödie „Manche mögen’s heiß“, dann bei ihrem berühmten Geburtstagsständchen für US-Präsident John F. Kennedy im Jahr 1962.

Bei ihrem Auftritt im Madison Square Garden trug sie ein hautfarbenes, mit 2500 Strasssteinen besticktes Kleid, in das sie sich ohne Unterwäsche einnähen ließ und das 2016 für 4,8 Millionen Dollar in den Besitz der Kuriositätenkabinett-Kette „Ripley’s“ überging – Kim Kardashian borgte es sich 2022 für ihren Besuch der Met-Gala aus und handelte sich dabei den Vorwurf ein, ein unersetzliches Kulturgut beschädigt zu haben.

Auf Marilyn Monroe folgten unter anderen Jane Birkin (1969, mit schwarzem Slip unterm Minikleid), Cher (1974, in einem Entwurf des Modedesigners und Kostümbildners Bob Mackie) und Kate Moss (1993, im durchsichtigen Trägerkleidchen mit grünem Slip).

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Über die Jahre war das Nacktkleid stets auch Spiegel der kulturellen Zustände einer Epoche – mal als Sinnbild für den männlichen Blick auf den weiblichen Körper, mal als Provokation und Symbol der Selbstermächtigung. Immer aber galt: Es gehört auf die große Bühne oder auf den roten Teppich, nicht aber auf profane Gartenpartys oder Geburtstagsfeste. Es ist ein Spektakel, kein Gebrauchsgegenstand – mehr Schmuckstück als Kleidungsstück. Es evoziert Eva vor der Vertreibung aus dem Paradies, ist luxuriöser Glanz über allem, frivol, frech, funktionslos.

Kleider existieren im Dialog mit dem Körper – beim Naked Dress wird daraus ein Monolog. Die Frau, die ihn trägt, wirkt verletzlich und stark zugleich. Auf dem Kleiderbügel ist ein Naked Dress belanglos, erst am Körper beginnt es zu leben. Es spricht die Schaulust des Publikums an und gewährt Teilhabe am vielleicht großartigsten Nebenprodukt des Kapitalismus: dem Starkörper – Körper, Kunstwerk und Konsumgut zugleich, von Studios, Agenten und Beratern vermarktet, perfektioniert und zur Projektionsfläche gemacht.

Befreiung und Unterwerfung

In diesem Spannungsfeld ist das transparente Kleid stets ambivalent geblieben, es kann für Befreiung stehen, aber auch für Unterwerfung. Rose McGowan hatte 1998 einen legendären Auftritt in einem Naked Dress bei den MTV Music Awards. Nach Beginn der #MeToo-Bewegung, zu deren Dynamik die Schauspielerin maßgeblich beitrug, indem sie Übergriffe des Filmproduzenten Harvey Weinstein öffentlich machte, erklärte sie rückblickend, sie habe damals die Kraft und die Widerstandsfähigkeit ihres Körpers zeigen wollen. Umgekehrt begleitete Bianca Censori ihren Ehemann Kanye West in einem hautfarbenen, hautengen Schlauch zu den Grammy Awards wie eine Sexsklavin.

Viele Modeschöpfer stehen dem Phänomen eher skeptisch gegenüber. „Ich mag keine Nude Dresses“, sagte Designerin Carolina Herrera bereits 2015. „Das ist kein Stil, das ist Aufmerksamkeitssucht.“ Auch Modeveteran Bob Mackie, der einst Cher in ein Kleid gesteckt hat, das mehr zeigte als verhüllte, findet keinen Gefallen an den modernen Interpretationen des Naked Dress. Diese sähen oft ärmlich und billig aus, und dass dann oft auch noch die Unterwäsche durchscheine, sei der Gipfel der Geschmacklosigkeit, sagte er in einem Interview.

Doch auch wenn Kritiker sich daran stören, dass sich Frauen in durchsichtigen Kleidern der männlichen Lüsternheit aussetzen und der Look trotz aller Diversity-Rhetorik schlanken und makellosen Körpern vorbehalten bleibt, sieht man das Nacktkleid seit #MeToo häufiger als je zuvor. Als textilgewordener Instagram-Narzissmus ist es der wohl deutlichste Ausdruck von Inszenierungskompetenz und hyperbewusster Selbstvermarktung.

Da fragt man sich nur, warum nicht auch mal Männer in Unterwäsche über den roten Teppich stolzieren. Immerhin einer hat es getan: Jakob Rott, einer von fünf jungen Männern, die es unter dem Namen „Elevator Boys“ mit Fahrstuhlvideos zur TikTok-Berühmtheit gebracht haben, erschien vor Kurzem bei einer „Vogue“-Party in Los Angeles in weißem Sakko, kombiniert mit nicht viel mehr als einem weißen Slip. Anna Wintour war nicht begeistert.

Source: welt.de