Im Gespräch | Andreas Pflüger: „Beim Schreiben von Romanen mache ich keine Gefangenen“
Auf dem Cover von Andreas Pflügers neuem Roman Kälter ist das Riesenrad im Wiener Prater zu sehen, und wer Pflüger kennt, der ahnt: Unbeschädigt wird dieses Wahrzeichen nicht bleiben. Das gilt auch für seine Figuren, die am Ende dieser Geschichte vielfältige Wunden davontragen, oder besser: sie stolz tragen wie Orden.
In Kälter fügt Pflüger der Reihe seiner ungewöhnlichen Heldinnen, die von der blinden Superagentin Jenny Aaron bis zu Nina Winter aus Wie Sterben geht reicht, eine neue hinzu. Luzy Morgenroth heißt sie, und zu Beginn des Romans hat sie noch so gar nichts Heldenhaftes an sich. Stark übergewichtig und ziemlich entspannt tut sie Dienst als Polizistin auf Amrum.
Eine Idylle, die jäh zerstört wird, als eine Gruppe Killer auf der Ferieninsel auftaucht. Luzy wird die Attentäter umbringen und lernen, dass ein alter Feind hinter der Aktion steckt, der Terrorist Hagen List, genannt Babel. Um sich an ihm zu rächen, gibt Luzy ihr bisheriges Leben auf und verwandelt sich nach und nach zurück in das, was sie früher einmal war: eine tödliche Waffe. Zusammen mit dem KGB-Agenten Nika Trigorin jagt sie Babel quer durch Europa bis nach Wien, wo sie ihn stellen kann. Im Chaos der Tage um den Mauerfall 1989 entspinnt Andreas Pflüger ein gewaltiges Action-Panorama.
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der Freitag: Herr Pflüger, die Heldinnen und Helden in Ihren Romanen gehen ins Extrem, um ihre Aufgabe zu erledigen. Zu ihrer Motivation wird aber eher wenig gesagt. Was bringt jemanden wie Luzy in „Kälter“ dazu, als Leibwächterin notfalls ihr Leben für das eines Fremden zu opfern? Im Roman wird ihr irgendwann diese Frage gestellt, eine Antwort gibt sie nicht. Wie lautet die Ihre?
Andreas Pflüger: Ich habe Theologie studiert und später das Studium als stabiler Agnostiker abgebrochen. Meine Heldinnen sind ähnlich wie ich Suchende. Und wenn sie auch nicht religiös sind, so glauben sie doch an moralische Prinzipien, die sich in der Bibel finden. Bedingungslose Treue und Standhaftigkeit beispielsweise. Ein Personenschützer opfert sich im Zweifel nicht für einen Menschen, sondern für die Sache, der er sich verpflichtet hat. Aber bei Luzy kommt noch etwas anderes hinzu: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Sie kennt sich im Alten Testament gut aus.
Dieses Lex talionis, das Gesetz der Vergeltung, ist in der DNA Ihrer Heldinnen verankert?
Ja, man darf nicht den Fehler begehen, sie bis auf Blut zu reizen, ihnen oder ihren Lieben ein Leid zuzufügen – und vor allem nicht, sie im Kampf am Leben zu lassen.
So wie es Luzys Gegenspieler, der Terrorist Babel, am Ende einer spektakulären Fahrstuhl-Actionszene in Israel macht.
Exakt. Sie prophezeit ihm, das sei der größte Fehler seines Lebens. Und er lacht, weil sie besiegt zu sein scheint. Doch eine Frau wie Luzy muss man töten oder fürchten.
Aber es muss ja außer Rachedurst noch mehr geben, oder? Der Roman spielt größtenteils in den Tagen rund um den Mauerfall und damit am Ende des Kalten Kriegs, der ja auch die Konfrontation zweier Systeme, zweier Weltanschauungen, war.
Das stimmt, doch in solchen Kategorien denkt Luzy nicht; „Problemlöserin“ fürs BKA war sie nicht aus ideologischen Gründen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie ein politischer Mensch ist. Wie Luzy im Buch sagt: Sie sei über ihre Schmerzgrenze hinaus dabeigeblieben, weil sie sehr gut darin war, weil sie glaubte, besser zu sein als jeder andere. Aber natürlich gibt es immer einen Besseren. Auch für meine Heldinnen.
Beim Lesen dachte ich aufgrund dieser Haltung oft an die Filme von Howard Hawks, den Western „Rio Bravo“ vor allem, in dem die Helden absolute Profis sind.
Passt. Auch in Bezug auf einen vermeintlich aussichtslosen Kampf gegen einen übermächtigen Feind. By the way: einer meiner Lieblingsfilme. Luzy ist, wie eigentlich alle meine Heldinnen, extrem pragmatisch. Sie schaut sich eine Problemstellung an und fragt: „Wie löse ich das?“ Etwa nach der Katastrophe auf Amrum im Prolog. Sie sagt sich: Ich habe seit acht Jahren nicht trainiert, wiege 15 Kilo zu viel. Ich muss erst einmal fit werden. Erst dann kann ich Babel jagen. Und noch ein Gedanke zu Luzys Motivation: Sie, die sich selbst als Waffe bezeichnet, hat definitiv etwas Manisches. Eine schöne Parallele zu meiner Besessenheit als Autor. Beim Romaneschreiben mache ich keine Gefangenen.
Auch wenn Luzy ihren Job nicht als aufrechte Verteidigerin westlicher Werte macht, glaube ich beim Lesen von „Kälter“ doch eine politische Dimension zu erkennen. Denn Sie zeigen, dass es im Kalten Krieg nicht immer so einfach war, wie uns die offizielle Geschichtsschreibung weismachen will: Hier die Guten, der Westen, die gegen die Bösen, die Kommunisten, kämpfen. Der Kalte Krieg war eher eine Grauzone, oder?
Grauer geht’s kaum. Darum interessierte mich die Figur des Nika Trigorin so sehr, ein Mann, der Luzys Verbündeter wird, bis sie das auf die harte Tour hinterfragen muss. Für mich war er die vielleicht größte Herausforderung. Er hat für den KGB und die Stasi gearbeitet, und trotzdem wollte ich, dass man sich mit ihm identifizieren kann. Einmal erklärt er, wie leid er die Anklagen des Westens gegen die DDR sei. Schließlich gebe es die vielen Altnazis im westdeutschen Sicherheitsapparat, den Rassismus in den USA, den Vietnamkrieg. Nika oszilliert zwischen den Systemen, und am Ende erweist er sich wie Luzy als Pragmatiker.
Im Grunde ist der Bösewicht wie Andreas Baader ein Hedonist, dem es um den Genuss und um die Show geht
Ihr Bösewicht Babel war früher Teil der RAF, inzwischen tötet er für jeden, der ihn bezahlt. Auch er scheint nicht aus ideologischen Gründen zu handeln.
Diesen ganzen systemischen Überbau der RAF hat er früh abgeschüttelt. Jetzt passt sein moralisches Koordinatensystem auf einen Stecknadelkopf. Im Grunde ist er wie Andreas Baader ein Hedonist, dem es um den Genuss und um die Show geht.
Wie stehen Sie selbst zu Ideologien?
Ich zweifle an den großen Erzählungen, ob Aufklärung, Religion, Sozialismus oder Fortschritt. Deshalb ist es für mich so unerklärlich, warum mir von allen meinen Romanfiguren Richard Wolf die liebste ist. Als BKA-Präsident glaubt er radikal an die Überlegenheit des Westens, an die Notwendigkeit, den Feind im Osten zu besiegen. Und an die Kraft von Recht und Gesetz. Es bringt Wolf in einen großen Konflikt, dass seine beste „Waffe“ Luzy ihre Nemesis Babel, die auch vom BKA gejagt wird, nicht stellen, sondern töten will. Dennoch gibt er ihr seinen Segen. In einer Position wie der von Wolf braucht man manchmal jemanden für die Drecksarbeit.
„Kälter“ ist ein historischer Roman, aber bei der Lektüre muss man unwillkürlich an die Ereignisse von heute denken, an den Gaza-Krieg und Russlands Angriff auf die Ukraine.
Israel habe ich 2023 besucht, wenige Monate vor dem Terrorangriff der Hamas. Ich spüre eine unglaubliche Nähe zu den Menschen dort. Sie sind mir herzlich begegnet, auch wenn ich Deutscher bin, aus einem Land komme, wo der Antisemitismus wieder Aufwind hat. Übrigens auch in der Kulturszene, wo Bewegungen wie der BDS unterstützt werden, die im Grunde fordern: „Kauft nicht bei Juden“. Ich stehe dem moralisch bankrotten Netanjahu und seinem rechtsextremen Kabinett äußerst kritisch gegenüber. Aber die Hamas hat diesen Krieg begonnen. Manchen scheint es zunehmend schwerzufallen, das auszusprechen.
Und Russland? Ich spüre in Ihrem Buch schon die Demütigung der Postwendezeit, die ja heute immer als ein Grund für die neuen Allmachtsfantasien Putins herangezogen wird.
Welche Demütigung? Ich habe mich für den Roman intensiv mit den Protokollen der Zwei-plus-vier-Verhandlungen und Gorbatschows Gesprächen mit Kohl beschäftigt. Man war im Westen verdutzt, die deutsche Einheit fast umsonst zu kriegen. Vor allem Bush ließ sich darüber sehr süffisant aus. Damals hatte man ja die Vision einer Europäischen Gemeinschaft von Dublin bis Wladiwostok, verrückt. Ich selbst war in dieser Wendezeit unglaublich naiv, weil ich in Gorbatschow so viel gesehen habe. Heute ist er für mich der überschätzteste Politiker des 20. Jahrhunderts. Oder wie es im Roman heißt: „ein Mann, der durch die Geschichte taumelt“. Beim Lesen von Kälter ertappt man sich permanent dabei, die Träume von damals mit der Realität Putin zu vergleichen. Das kann wehtun.
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Wir haben eben schon über Howard Hawks gesprochen, also lassen Sie uns noch ein wenig beim Thema Kino bleiben. Wie frühere Ihrer Romane ist auch „Kälter“ gespickt mit Referenzen auf Filme von „Der Pate“ bis „Spiel mir das Lied vom Tod“. Vor allem aber Gene Hackman und „French Connection“ kommen immer wieder vor; Luzy träumt sogar von einem eigenen Kino, in dem sie ausschließlich Filme mit Hackman zeigt. Was hat es damit auf sich?
Am Anfang des Schreibens habe ich wie immer mit meiner Heldin noch gefremdelt. Doch dann vertraute sie mir an, dass sie keine große Leserin ist, sondern Filme liebt. Als Romancier muss ich meinen Figuren folgen und nicht umgekehrt. Luzy musste mich als gelernten Drehbuchautor allerdings nicht zum Jagen tragen (lacht). Ich fing an, Filme in die Geschichte einzubauen, zuerst in den Prolog auf Amrum, dann in Berlin und München, wo sie einen Verfolger in der French-Connection-Manier von Gene Hackman austrickst. Andersherum habe ich für meine große Actionsequenz im Nachtzug nach Wien jede Menge alte Filme mit Zug-Action geguckt. Ich mag es oldschool.
Ein Film, an dem kein Weg vorbeiführt, wenn man eine Agentengeschichte schreibt, die in Wien spielt, ist natürlich „Der dritte Mann“.
Klar, zumal ich den Film früher immer toll fand. Ich habe ihn mir noch einmal angeschaut undleider festgestellt, dass er enorm viel Patina angesetzt hat, was übrigens auch für den Roman von Graham Greene gilt. Manche Filme altern wie guter Wein, andere wie Bananen.
Eigentlich wollte ich das Hotel Sacher in die Luft sprengen
Ich würde widersprechen, für mich ist dies immer noch einer der besten Filme über die frühen Jahre des Kalten Kriegs.
Wir könnten uns darauf einigen, dass er Wien als das zeigt, was es seit 1945 war: die Hauptstadt des Kalten Kriegs – noch vor Berlin. Ab 1987 war für KGB und Stasi das Ende absehbar, sodass sie begannen, Unsummen ins Ausland zu schaffen – und in Wien zu waschen. Die Stadt war auch ein Eldorado für Glücksritter und Überläufer, Agenten, die sich von ihren Diensten absetzen wollten. Das Meiste spielte sich auf den knapp drei Quadratkilometern des 1. Bezirks ab; die Spione mussten schauen, sich nicht gegenseitig auf die Füße zu treten.
Eine der vielen Actionszenen des Romans spielt im Prater, wo ein Anschlag auf das Riesenrad stattfindet. War Ihnen immer klar, dass dieses Symbol Wiens dran glauben muss?
Eigentlich wollte ich das Hotel Sacher in die Luft sprengen und hatte die Choreografie der Sequenz schon komplett komponiert. Aber als ich auf der Recherchereise im Prater nach oben blickte, wurde mir klar: Du musst viel größer denken. Ich habe meinen Sprengstoffexperten angerufen, der mir schon bei früheren Romanen wunderbare Dienste geleistet hat, und als er meine Stimme hörte, rief er erfreut ins Telefon: „Was sprengen wir diesmal in die Luft, Herr Pflüger?“
Die wohl wichtigsten und bekanntesten Schriftsteller des Kalten Kriegs sind Ian Fleming mit den James-Bond-Romanen und John le Carré, der Autor der Smiley-Romane. Haben Sie die beiden Schriftsteller bei Ihrer Recherche zu „Kälter“ herangezogen?
Nein. Ian Fleming versuchte ich vor Urzeiten zu lesen und bin dabei sprachlich verhungert. Aber ich bin ein Fan der Filme. Nicht der alten, sondern von denen mit Daniel Craig. Was John le Carré angeht, so habe ich nur einen einzigen Roman von ihm zu Ende gelesen, das war Der Spion, der aus der Kälte kam. Auch wenn es psychologisch wunderbar erzählt und austariert ist: Mir ist das alles zu melancholisch und zu still. Ich bin ein Autor, dessen Bücher auch stark von der Physis leben. Im Grunde will ich immer Blockbuster schreiben, Romane, bei denen man unwillkürlich das Bedürfnis verspürt, nach Popcorn oder Eiskonfekt zu greifen.
Die Action in Ihren Romanen ist so aufwendig, dass ich beim Lesen immer denke, der Pflüger will gar nicht, dass sie irgendwann verfilmt werden, das kann ja niemand bezahlen.
Die Filmrechte an den Jenny-Aaron-Romanen und an Wie sterben geht habe ich vergeben, passiert ist aber nichts bislang. Klar, dafür muss man viel Geld in die Hand nehmen. Vielleicht schreibe ich meine Romane so opulent, weil ich als Drehbuchautor unter den Budgetzwängen deutscher Filme so gelitten habe. Das ist eine Fantasie-Bremse. Irgendwann dachte ich: Vielleicht ist Kopfkino doch das schönste Kino.
Andreas Pflüger wurde 1957 in Langensalza geboren, als Drehbuchautor hat er unter anderem mehr als zwei Dutzend Folgen des Tatort geschrieben. Mit Endgültig, dem Auftakt seiner Trilogie um die blinde Elitepolizistin Jenny Aaron, hatte er 2016 seinen Durchbruch. Kälter (Suhrkamp, 495 S., 25 €) ist sein siebter Roman. Der zweifach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnete Autor lebt in Berlin