Ola Källenius unter Druck: Die zweite Chance des Mercedes-Chefs
Ein Novemberabend in Stuttgart. Der Veranstaltungssaal im Stadtzentrum ist bis auf den letzten Platz besetzt, gut 300 Zuhörer sind gekommen. Mercedes-Chef Ola Källenius nimmt vorne auf dem Podium Platz, mit ihm in der Runde sind unter anderem Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die frühere Bosch-Managerin Martina Merz.
„Autoindustrie im Umbruch“, lautet der Titel der Diskussionsrunde. Das klingt harmloser, als es ist, denn in der schwäbischen Herzkammer der krisengeschüttelten deutschen Autoindustrie grassiert die Zukunftsangst. Ob bei Bosch, Mahle, Porsche oder eben Mercedes: In der Region Stuttgart, die durch das Auto reich geworden ist, streichen die Unternehmen Tausende von Arbeitsplätzen.

Källenius, der kühle Schwede, und Kretschmann, der grummelige grüne Ultra-Realo, haben einen ganz guten Draht zueinander. Die Begrüßung fällt herzlich aus, inhaltlich liegen sie an diesem Abend ohnehin in vielen Fragen auf einer Linie.
Aber einen Seitenhieb kann sich der Ministerpräsident dann doch nicht verkneifen. Das von der EU-Kommission geplante umstrittene „Verbrennerverbot“ sei nicht mehr haltbar, hebt Kretschmann an. Aber man müsse der EU eine gesichtswahrende Korrektur ermöglichen. Öffentlich Fehler einzugestehen, sei nun mal schwer – und das nicht nur für EU-Technokraten, sondern auch für Führungskräfte in Unternehmen, fährt Kretschmann fort: „Oder haben Sie schon mal erlebt, dass ein Automobilchef sagt: Ich habe harte Fehler gemacht.“
Doppelter Kurswechsel
Allgemeine Erheiterung im Saal. Alle wissen, dass Kretschmann damit auch Källenius meint. Über die stoisch ungerührte Miene des Automanagers huscht für einen Augenblick ein Lächeln.
Ein paar Minuten später spielt der Mercedes-Chef den Ball zurück. „Gelegentlich können auch Firmenchefs reflektiert sein und Kurskorrekturen machen“, sagt Källenius. Kurze Kunstpause. „Auch wenn das kommunikativ elegant verpackt ist.“ Dieses Mal hat er die Lacher auf seiner Seite.
So ist das nun mal auf Vorstandsetagen wie in hohen Regierungsämtern: In den Sphären der Mächtigen gilt es als gefährlich unprofessionell, Fehler offen einzuräumen. Am Ende zahle sich das in den seltensten Fällen aus, sondern werde fast immer gegen den Reumütigen verwandt, so die herrschende Meinung. Wirtschaftsbosse wie Spitzenpolitiker müssen Fehler revidieren – ohne sie offen einzugestehen. Und Mercedes-Chef Källenius musste im Jahrhundertsturm, der um die Autoindustrie tobt, gleich zwei seiner strategischen Grundlinien korrigieren.
Zuerst kündigte Mercedes an, auch in Zukunft viel Geld in Autos mit Verbrennungsmotor zu investieren, statt, wie von Källenius ursprünglich geplant, binnen weniger Jahre voll auf Elektroantrieb umzustellen. Diesen Kursschwenk mussten auch andere Hersteller vornehmen, zu schwach waren die Verkaufszahlen von E-Autos in Europa und den USA. Bei Mercedes aber kam hinzu, dass auch der von Källenius vor drei Jahren ausgerufene Plan, stärker als bislang auf teure Luxusfahrzeuge zu setzen, nicht recht funktioniert hat. Auch davon ist der Schwede diesen Sommer notgedrungen abgerückt.
Für Källenius, 56 Jahre, geht es bei seinem doppelten Kurswechsel um viel. Sein Vertrag als Mercedes-Chef läuft bis 2029. Die Abkehr von „all electric“ und die Korrekturen bei der Luxus-Ausrichtung von Mercedes – das ist seine zweite Chance. Dieses Mal muss er richtigliegen.
Der Schreibtisch von Källenius steht im Großraumbüro
Termin bei Ola Källenius im Werk in Stuttgart-Untertürkheim. In der Ferne dreht sich wie eh und je der Mercedes-Stern auf dem Dach eines Bürogebäudes. Er glitzert in der Sonne. Der Aufzug fährt in den zwölften Stock. Oben in der Chefetage empfängt den Besucher ein weitläufiges Großraumbüro mit vielen Arbeitsplätzen. An der Wand hängt ein großformatiger Siebdruck eines Mercedes-Sportwagens von Andy Warhol.

Es ist ein schöner Herbsttag. Durch die großen Fenster könnte Källenius einen prachtvollen Blick haben über das nahe Stadion des VfB Stuttgart und die Weinberge im Neckartal. Aber der Mercedes-Chef sitzt mit dem Rücken zur Fensterfront. Sein Arbeitsplatz ist maximal unprätentiös, der Schreibtisch steht in einer Ecke des Großraumbüros hinter Grünpflanzen und hüfthohen Büroschränken. Hier könnte auch ein Sparkassen-Anlageberater zum Kundengespräch bitten.
Källenius hat ein paar Erinnerungsstücke auf den Büromöbeln verteilt. Ein Rennfahrerhelm, denn er hat mal das Formel-1-Motorenprogramm von Mercedes geleitet, und ein US-Nummernschild aus Alabama, wo er mal Chef einer Mercedes-Fabrik war.
Seit sechseinhalb Jahren führt Ola Källenius nun die deutsche Industrieikone Mercedes-Benz. Er hat sein gesamtes Berufsleben in diesem Unternehmen verbracht. Beim ältesten Automobilhersteller der Welt, gegründet vor 139 Jahren. Im firmeneigenen Museum, auf das Källenius von seinem Bürofenster aus ebenfalls blicken kann, steht die Ahnengalerie legendärer Mercedes-Autos aufgereiht. Vergangenes Jahr kamen fast 900.000 Besucher, ein neuer Rekord. Der Stern glänzt noch immer.
„Was gestern richtig war, kann heute falsch sein“
Mercedes, das ist ganz viel Geschichte. Aber um seinen Platz in der Zukunft muss das Unternehmen heute kämpfen wie noch nie in seiner langen Historie. Der epochale Technologiebruch durch den Übergang vom Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb ist viel schwieriger und langwieriger als erwartet. Die Verkaufszahlen der Mercedes-Elektroautos der ersten Generation, allen voran das Topmodell EQS, haben die internen Erwartungen nicht erfüllt. Zu teuer, zu wenig Platz im Innenraum, zu progressiv im Design für die konservative Kundschaft, lautet die Kritik im Markt.
Was besonders wehtut: Der ewige Rivale BMW muss zwar ebenfalls kämpfen, aber der Wettbewerber aus München fährt bislang besser durch die unberechenbare Zeitenwende als Mercedes. Bei den Schwaben sind die Zahlen finster. Im dritten Quartal hat Mercedes in China, dem wichtigsten Absatzmarkt des Herstellers, 27 Prozent weniger Autos verkauft. Von jedem Euro Umsatz bleibt im operativen Geschäft weltweit nur noch halb so viel hängen wie im Vorjahr.
Der Mercedes-Chef verteidigt seinen Strategieschwenk, die Abschwächung der Luxus-Ausrichtung von Mercedes und die weiteren Investitionen in Verbrennerautos. „Was gestern richtig war, das kann heute bei neuen Rahmenbedingungen falsch sein“, sagt er. Zurückzublicken und sich zu ärgern, bringe nichts. „Und es bringt gleich gar nichts, aus falsch verstandener Gesichtswahrung Dinge nicht zu korrigieren, obwohl das wegen veränderter Prämissen notwendig ist.“
Rückendeckung vom Aufsichtsratschef
Intern bekommt Källenius Rückendeckung für seinen Kurswechsel. „Der Aufsichtsrat steht auch in schwierigen Zeiten voll hinter dem Vorstand“, sagt Mercedes-Aufsichtsratschef Martin Brudermüller der F.A.S. Der frühere BASF-Chef leitet seit anderthalb Jahren das oberste Kontrollgremium von Mercedes – und er ist ein sehr aktiver Chefaufseher. Zwei Tage in der Woche ist Brudermüller vor Ort in Stuttgart. Alle anderthalb bis zwei Wochen trifft er sich mit Källenius zum Vieraugengespräch. „Das Wort Aufsichtsrat besteht aus zwei Teilen: Aufsicht und Rat“, sagt Brudermüller.
Als Källenius im Juli 2021 seine „Electric only“-Strategie vorstellte und damit auf eine rasche Ablösung des Verbrennungsmotors setzte, ließ sich er sich eine Hintertür offen: Mercedes werde ab 2030 nur noch E-Autos verkaufen, wo immer das der Markt zulasse, so die damalige Ansage. „Der zweite Teil des Satzes war immer da, aber wir hätten ihn stärker betonen sollen“, sagt Källenius heute.

Und was ist mit der Luxus-Strategie, die nicht funktioniert hat? Mercedes könne auch im Einstiegssegment und in der Mittelklasse höhere Preise bei den Kunden aufrufen als die Konkurrenz, davon ist er auch heute noch überzeugt. Aber man sei wohl zu optimistisch gewesen, wie stark Mercedes an dieser Schraube drehen kann. Konzerninsider berichten, dass der von ihm vor drei Jahren angekündigte stärkere Luxus-Fokus damals in der Mercedes-Spitze durchaus umstritten gewesen sei. Aber Källenius setzte sich durch.
„I want to win“
Heute dagegen nimmt er das toxisch gewordene „L-Wort“ nicht mehr in den Mund. Stattdessen ist ziemlich sicher damit zu rechnen, dass mit der A-Klasse die vergleichsweise preisgünstige Mercedes-Einstiegsbaureihe doch fortgeführt wird – anders als bislang vorgesehen.
Wer den Mercedes-Chef fragt, was die größten Niederlagen in seiner Karriere waren, dem antwortet er bloß: „Don’t dwell on the past, don’t cry over spilled milk.“ Källenius spricht perfekt Deutsch, aber wenn ihm Dinge wichtig sind, wechselt er kurz ins Englische. Was bringe es schon, mit der Vergangenheit zu hadern und über verschüttete Milch zu jammern? „Es ist unmöglich, hundert Prozent der Entscheidungen richtig zu treffen.“ Mehr gibt es dazu für ihn nicht zu sagen.
In den Rückspiegel blickt Källenius nicht. Nur nach vorne. „Ich habe eine intrinsische Motivation zu gewinnen“, sagt er – und wechselt wieder ins Englische: „I want to win.“ So war er schon immer. Erfolg im Sport, das war das Erste, worauf der junge Ola in seiner Kindheit in Schweden seinen Ehrgeiz richtete. Er spielte Basketball und American Football. „Bis heute bin ich absoluter Hardcore-Fan“, sagt Källenius. Einmal selbst dabei sein im Stadium beim Superbowl-Finale in den USA, das ist ein Traum von ihm.
Källenius kann ein einnehmender, zugewandter, manchmal auch empathischer Gesprächspartner sein, wenn er das möchte. Selbst mit Jürgen Resch, Chef der Deutschen Umwelthilfe und einer der schonungslosesten Kritiker der Autoindustrie, ging er mal auf eine gemeinsame Bootstour auf dem Bodensee.

Aber normalerweise sei Källenius im Berufsleben eher wie Arnold Schwarzenegger in seiner berühmten Rolle als Cyborg unterwegs, scherzt einer. Vom „Terminator“-Modus des Chefs sprechen sie bei Mercedes: kaum ein Lächeln, minimale Mimik, extreme Selbstkontrolle. Emotionen zu zeigen, das ist nicht sein Ding. „Er ist wirklich kaum aus der Fassung zu bringen, auch in schwierigsten Situationen nicht. Das ist schon bemerkenswert“, sagt Ergun Lümali, der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von Mercedes.
Das Selbstvertrauen ist angeknackst
Unangenehm kann es im Umgang mit Källenius allerdings schon werden. Nur werde er dann nicht laut, sondern eisig, berichten Leute, die das selbst erlebt haben. Seine Betriebstemperatur steigt dann nicht, sie fällt in Richtung Gefrierpunkt. Kühlschrank Källenius. Damit kommt nicht jeder klar.
An schwierigen Themen fehlt es nicht. Der Arbeitnehmervertreter Lümali hat dieses Jahr ein fünf Milliarden schweres Sparpaket mit dem Management um Källenius ausgehandelt. Tausende Stellen fallen weg, aber der Abbau wird ohne betriebsbedingte Kündigungen erfolgen. Stattdessen bietet Mercedes ausstiegswilligen Mitarbeitern viel Geld. Abfindungsofferten von 300.000 Euro für Akademiker mit langjähriger Betriebsangehörigkeit sind keine Seltenheit. Die Verunsicherung in der Belegschaft sei groß, sagt Lümali. Das Selbstvertrauen in der Mercedes-Welt ist angeknackst. Die legendäre S-Klasse ist seit Jahrzehnten das Vorzeigeprodukt des Unternehmens. Aber die aktuelle Generation wird im Werk Sindelfingen, mangels Nachfrage, nur noch im Ein-Schicht-Betrieb gefertigt statt wie früher in zwei Schichten.
So etwas mache den Leuten Angst, sagt der Betriebsratschef. „Ich würde mir wünschen, Ola Källenius würde mehr Zeit mit den Menschen in den Werken verbringen und weniger mit Kapitalmarktvertretern“, sagt der Betriebsratschef. Källenius weist die Kritik zurück. Er treffe viele Mitarbeiter auf der ganzen Welt, aber er müsse eben auch mit den Eigentümern des Konzerns, den Aktionären, sprechen.
„Wir machen alles neu“
Dass Källenius viel stärker auf Kosteneffizienz und Profitabilität achte als sein Vorgänger Dieter Zetsche, sei richtig, findet Ingo Speich, Fondsmanager bei Deka Investments in Frankfurt. „Aber am Ende zählen die Produkte, und bisher hat Mercedes unter Källenius den erfolgreichen Sprung in die Elektromobilität nicht geschafft“, sagt Speich.
Die nächsten zwei bis drei Jahre werden entscheidend sein – für die Zukunft von Mercedes, aber auch für Källenius selbst. Mercedes spricht von der größten Produktoffensive in der Geschichte des Unternehmens: Rund 40 neue Modelle sollen in den nächsten 20 Monaten auf den Markt kommen, darunter neben Verbrennermodellen auch viele E-Autos. Denn längerfristig, davon ist Källenius weiter überzeugt, werden sie entscheidend sein.
„Das wird die Stunde der Wahrheit für die Strategie von Ola Källenius, die Verkaufszahlen müssen steigen“, sagt der Autoexperte Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management. Aber schnelle Erfolge kann Källenius nicht versprechen. 2026 werde unter anderem wegen Zöllen und der vielen anstehenden Modellwechsel abermals schwierig. „Da müssen wir jetzt durch“, sagt er. Erst ab 2027 werde sich die Modelloffensive auszahlen. „Wir machen alles neu, vom Einstiegsmodell bis zur S-Klasse“, verspricht er. Seine zweite Chance will Ola Källenius unbedingt nutzen.