Demokratie aller Lebewesen: Hört zu, wenn dieser Planet mit uns spricht!

Planetar zu denken, bedeutet im Kern, die menschliche Existenz und ihre Erd­verbundenheit in Beziehung zum Universum zu setzen und damit zugleich die anthropozentrische, auf den Menschen ausgerichtete Wissensordnung zu relativieren. „Planetar“ ist ein in den vergangenen ­zwanzig Jahren entwickeltes Paradigma im Sinne des polnischen Biologen und Wissenschaftstheoretikers Ludwik Fleck: ein Denkstil, der inzwischen ein locker verbundenes Denkkollektiv hervorgebracht hat. Es verknüpft die empirische Forschung diverser Fächer wie der Astrophysik und Astrobiologie mit literarischen und künstlerischen Ex­plorationen.

Planetare Gefühle konnte schon immer die Betrachtung eines nächtlichen Sternhimmels hervorrufen – oder der Overview-Effekt, den die Apollo-Mission der Menschheit durch die erste Aufnahme der Erde aus dem All vermittelte. Noch eindrücklicher zeigte sich diese Relationierung und Relativierung bei der Betrachtung des Pale Blue Dot, jenes 1990 auf Anregung des Astronomen Carl Sagan entstandenen Foto der Erde, das die Raumsonde Voyager 1 aus einer Distanz von rund sechs Milliarden Kilometern aufnahm. Bis heute ist es das aus der größten Distanz aufgenommene Foto der Erde.

Die planetarische Situation

Dieser Overview trug jedoch eher zu einem intensiveren Geozentrismus bei. Auch die kritische Erkenntnis der jüngst menschengemachten Erdgeschichte, provisorisch als Anthropozän bezeichnet, hat eher die Fixierung auf uns menschliche Erdbewohner gefestigt, als das Bewusstsein für unsere planetare Bedingtheit in einem den Sechs-Milliarden-Kilometer-Bildraum weit übertreffenden Universum zu schärfen. Auch eine der letzten Publikationen des weitsichtigen politischen Ökologen Bruno Latour trug in deutscher Übersetzung den Titel „Das terrestrische Manifest“.

Frédéric Neyrat: „La Condition Planétaire“.
Frédéric Neyrat: „La Condition Planétaire“.Les Liens Qui Libèrent

Diese Erdfixierung will der in Madison/Wisconsin lehrende französische Philosoph Frédéric Neyrat überwinden, um die kopernikanische Wende in der Erkenntnis einer „condition planétaire“ konsequent zu vollziehen. Neyrat leitet sie – in der für sprachspielverliebte Franzosen typischen Weise – etymologisch vom lateinischen condicio ab, das mit dem Präfix con auf einen Vertrag und mit dem Verbdicere auf eine Kommandoformel verweist. Konditionieren meint dementsprechend also keine fixe Identität oder Zwangssituation, sondern ein (nicht deterministisches) Zusammentreffen von Entitäten. „Existieren“ heißt somit: hier und anderswo sein. Neyrat fordert dazu auf, die Erde als Teil eines kosmischen Ganzen zu begreifen, damit die Menschheit aus dem Anthropozän herausfinden könne.

Neyrat ist nicht der einzige Vertreter dieser Denkschule. Seit einer entsprechenden Notiz von Gayatri Chakravorty Spivak wird das Planetare vom Globalen der Globalisierung abgegrenzt: Wir leben nicht auf einem Planeten, sondern sind ein Teil von ihm. Das greift auf ein Wissen zurück, das von indigenen Kosmologien über neuzeitliche Materialisten wie Baruch de Spinoza bis hin zur geotropen Astronautik Hans Blumenbergs reicht.

Mehr als nur Esoterik und Irrationalismus

Die Erde ist keine stabile Hintergrundbedingung für menschliche Aktivitäten und keine zuverlässige Lieferantin sogenannter Ökosystemdienstleistungen. Die Erde ist keine sich um uns sorgende „Pachamama“ (Mutter Erde), humane Existenzen sind dem Planeten gleichgültig. Selbst das Postulat nachhaltiger Entwicklung, das seit dem Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen von 1987 fast jede Sonntagsrede ziert („die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigen, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“) unterliegt einem anthropozentrischen Bias. Denn der Planet macht da offenbar nicht mit.

„Pale Blue Dot“: Die Erde als blassblauer Punkt, aufgenommen aus sechs Milliarden Kilometer Entfernung am 14. Februar 1990.
„Pale Blue Dot“: Die Erde als blassblauer Punkt, aufgenommen aus sechs Milliarden Kilometer Entfernung am 14. Februar 1990.AKG

Dass das mehr ist als eine esoterische, irrationale Marotte, bestätigte der an der University of Rochester lehrende Astrophysiker Adam Frank. „Das Planetare ist eine neue ‚Kosmologie‘, die als Alternative zu den sozialen, kulturellen und politisch-ökonomischen Ordnungen der globalen Moderne entsteht.“

Wenn Neyrat metaphorisch eine „démocratie céleste“ postuliert, hat diese wenig mit klassischem Parlamentarismus gemein. Seine Ausführungen zum „Planetariat“ bleiben jedoch vage und lassen sich vor allem darauf reduzieren, dass Menschen sensibler für ihre kosmische Einbettung werden sollten. Doch wie die meisten „Planetarier“ scheut er vor institutioneller Konkretisierung zurück. Neyrats Titel erinnert an Hannah Arendts 1958 erschienenes Buch „The Human Condition“, das planetare Assoziationen vermied und auch mit der Figur des „Amor Mundi“ auf dem Boden menschlicher Bedingtheiten bleibt.

Auch Flora und Faune sind wirkmächtig

Eventuell öffnet aber Arendts emphatischer Handlungsbegriff einen Spalt in den Bereich der nicht menschlichen Conditions und einer „multispecies democracy“, die „mehr-als-menschliche“ Akteure einschließen möchte. Ob man diesen, die Latour „Aktanten“ genannt hat, neben ihrer offensichtlichen Wirkmächtigkeit auch Handlungsfähigkeit zuschreiben kann, wird nach Jahren ertragreicher natur- und kulturwissenschaftlicher Forschungen (etwa in den Animal Studies) heute nicht mehr kategorisch zurückgewiesen.

Handlungsfähig im arendtschen Sinne des „Anfangenkönnens“ sind Flora und Fauna zwar nicht, wenn man humane Maßstäbe wie Bewusstsein, Intelligenz, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie entsprechende emotionale und kognitive Kompetenzen anlegt. Aber von „Agency“, der Wirkmächtigkeit nicht menschlichen Lebens, darf man sicherlich ausgehen, und diese erschöpft sich nicht bloß im passiven Erleiden des Anthropozäns.

Die Notwendigkeit einer Proxy-Repräsentation oder einer noch zu entwickelnden Berücksichtigung im politischen Raum ergibt sich aus den demokratietheoretischen Axiomen von Betroffenheit und Unterordnung. Diese Axiome haben sich historisch etwa in der Beendigung des Dreiklassenwahlrechts, der Zulassung des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen, der Wahlberechtigung ausländischer Staatsbürger und Menschen mit schwersten Behinderungen sowie jüngst der Berücksichtigung „künftiger Generationen“ gezeigt und eine starke Inklusionsdynamik ausgelöst.

Wie man der Natur zuhören kann

Da neuerdings „Rechte der Natur“, vertreten durch rechtskundige Advokaten und naturverständige Stewards, postuliert werden, stellt sich die Frage, wie „more-than-humans“ buchstäblich zu verstehen und vor allem zu hören sind. Erforscht wurde, in welcher Weise Vulkane aktiv sind, ein Wald sich regeneriert, Pilznetzwerke sich ausbreiten oder Wale singen. Bisher hatte man für Mutmaßungen über die Kommunikation nicht menschlicher Lebewesen romantische Literatur und Zeitkritik konsultiert, die neuerdings im Nature Writing aktualisiert wird. In diesem Sinne empfiehlt auch Neyrat Space Music im Spektrum von Karlheinz Stockhausens „Sirius“ sowie Free Jazz und afrofuturistische Stücke. Auch Experimente einer „Organismendemokratie“ bewegen sich in diese Richtung.

Interessant sind inzwischen aber auch wieder jene respektable holistisch-materialistische Tradition, die etwa in A. N. Whiteheads Prozessontologie (process ontology) eingeflossen ist, sowie das umfangreiche Repertoire indigener Kosmologien, das unter anderem Philippe Descola übermittelt hat. Heranziehen kann man heute auch die Semiotik, deren Potentiale durch IoT-Sensorik, Robotik und Künstliche Intelligenz erheblich erweitert wurden und immer noch erweitert werden.

Bedeutungstragende Zeichen werden dabei in unterschiedlichen Feldern untersucht: die Geosemiotik für geomorphologische Formen, die Zoosemiotik etwa beim Walgesang, die Biosemiotik bei chemischer Signalübertragung in Pilznetzwerken und die Phytosemiotik bei chemischen Warnsignalen im Wurzelnetzwerk von Bäumen. Hier deuten sich ungeahnte Übersetzungsleistungen für nicht menschliche Stimmen an, die für eine planetare Politik relevant werden können. Für eine erste Bilanz planetaren Denkens ist das kein schlechtes Ergebnis. Unterdessen dürfen profane terrestrische Anstrengungen zur Bewahrung des Planeten Erde nicht nachlassen.

Frédéric Neyrat: „La Condition Planétaire“. Les Liens Qui Libèrent, Paris 2025. 480 S., geb., 25,– €.

Source: faz.net