Sachverständigenrat: Deutsche Wirtschaft wächst erstmals seitdem 2022 wieder nennenswert

Die deutsche Wirtschaft wird im kommenden Jahr erstmals seit 2022 wieder in nennenswertem Umfang wachsen. Doch es könnte viel mehr sein, wenn die Bundesregierung die Milliarden neue Schulden besser verwenden würde. Das sind die Kernbotschaften im Jahresgutachten, das der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am Mittwoch der Bundesregierung übergeben hat. Die fünf Mitglieder des Rats, die umgangssprachlich auch als „Wirtschaftsweise“ bezeichnet werden, mahnen die Regierung, die Wachstumschancen nicht zu verspielen.
Nach der Prognose wird das reale Bruttoinlandsprodukt im kommenden Jahr um 0,9 Prozent zulegen, nach einem Miniplus von 0,2 Prozent in diesem Jahr. Damit ließe die deutsche Wirtschaft die Rezession und Stagnation der vergangenen Jahre hinter sich. 2023 und 2024 war die hiesige Wirtschaftsleistung geschrumpft.
Dem Sachverständigenrat gehören die Vorsitzende Monika Schnitzer (Universität München), Veronika Grimm (TU Nürnberg), Ulrike Malmendier (Universität Berkeley), Achim Truger (Universität Duisburg-Essen) und Martin Werding (Universität Bochum) an.
Ein Drittel des Wachstums kommt vom Staat, ein Drittel durch weniger Feiertage
Eine gesunde Erholung der deutschen Wirtschaft erwarten die Sachverständigen freilich nicht. „Von einem breit angelegten Aufschwung ist im kommenden Jahr nicht auszugehen“, heißt es in dem Gutachten. Insbesondere prognostizieren die Ökonomen nur eine schwache Expansion der privaten Investitionen, die seit 2022 geschrumpft sind. Ein wesentlicher Teil des Wachstums werde auf zusätzliche öffentliche Ausgaben aus dem Sondervermögen Infrastruktur und Klimaneutralität und für die Verteidigung zurückgehen.
Die Ausgaben des Finanzpakets tragen demnach 0,3 Prozentpunkte zum erwarteten Wachstum von 0,9 Prozent im kommenden Jahr bei. Weitere 0,3 Prozentpunkte ergeben sich dadurch, dass 2026 mehr Arbeitstage zur Verfügung stehen. Nur ein Drittel des Wachstums entspringt nach dieser Rechnung aus originärer privatwirtschaftlicher Aktivität.
Erholung im verarbeitenden Gewerbe verpufft
Nur verhaltene Anschubwirkungen sprechen die Ökonomen den verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten zu, mit der die Bundesregierung seit Juli die privaten Investitionen beschleunigen will. Die sich im vergangenen Sommer andeutende verhaltene Erholung im verarbeitenden Gewerbe sei weitgehend verpufft. Deutschland mit seiner exportorientierten Industrie verliere zunehmend den Anschluss an die Weltwirtschaft, heißt es. Der Anteil der Exporte am globalen Warenhandel sei von acht Prozent im Jahr 2018 auf 6,9 Prozent im Jahr 2024 gesunken.
Als Grund für die Wettbewerbsschwäche der deutschen Industrie nennt der Sachverständigenrat die Aufwertung des Euro. Er verweist aber auch auf seit 2022 erhöhten Großhandelspreise für Erdgas und Strom und die stärker als in anderen Eurostaaten gestiegenen Lohnstückkosten. Nicht zuletzt zitieren die Ökonomen die erhöhte wirtschaftspolitische Unsicherheit.
Hoffnungen setzten die deutschen Unternehmen in diesem Jahr zunehmend auf Investitionen der öffentlichen Hand, nachdem das Parlament einen Verschuldungsspielraum von 500 Milliarden Euro für Investitionen (über zwölf Jahre) und von zusätzlichen Milliarden für die Verteidigung geöffnet hatte. Der Sachverständigenrat hatte dieses Ausgabenprogramm im Prinzip für gut befunden. Nun aber mehren sich die Sorgen, dass die Bundesregierung nicht hält, was sie versprach. Erhebliche Unsicherheit bestehe hinsichtlich der Verausgabung der Mittel des Sondervermögens, heißt es.
Diese sollten eigentlich für zusätzliche Investitionen ausgegeben werden. Bislang werde das Sondervermögen aber zu großen Teilen für Umschichtungen im Haushalt, zur Deckung von Finanzierungslücken im Kernhaushalt und zur Finanzierung staatlichen Konsums genutzt, kritisieren die Sachverständigen. Damit verschenkt Deutschland nach der Analyse Wachstumspotenzial und riskiert, die langfristige Schuldentragfähigkeit des deutschen Staates zu gefährden. Die Schuldenstandsquote könnte von derzeit weniger als 65 Prozent bis Mitte der dreißiger Jahre auf 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen, falls die derzeitige Politik weiter verfolgt werde, heißt es. Würde die Regierung demgegenüber mehr auf Investitionen achten, bliebe die Schuldenquote unter 80 Prozent.
Staatskonsum macht hohen Anteil aus
Nach der Finanzplanung des Bundes werde nur die Hälfte der aus dem Sondervermögen geplanten Investitionen zusätzlich sein, kritisiert der Rat. Mit 51 Prozent sei zudem der Anteil konsumptiver Ausgaben hoch. Für das kommende Jahr erwarten die Sachverständigen zum Beispiel zusätzliche öffentliche Investitionen in Höhe von 5,7 Milliarden Euro, zusätzlichen öffentlichen Konsum von 4,9 Milliarden Euro und zusätzliche Verteidigungsausgaben in Höhe von 12 Milliarden Euro.
Der Rat empfiehlt gesetzliche Präzisierungen und eine bessere Kontrolle der Ausgaben aus dem Sondervermögen, um sicherzustellen, dass das Geld – wie versprochen – weitestgehend für zusätzliche Investitionen verwendet wird. Die Ökonomen raten ferner dazu, auf „fragwürdige Maßnahmen“ wie die Ausweitung der Mütterrente, die Anhebung der Entfernungspauschale, die Umsatzsteuerermäßigung in der Gastronomie und die Wiedereinführung der Agrardieselsubvention zu verzichten und diese nicht indirekt aus dem Schuldentopf zu finanzieren.
Altersvorsorge: Staatlich gefördertes Depot
Ein eigenes Kapitel widmen die Sachverständigen der Verteilungsfrage und der Erbschaftsteuer. Die Vermögensungleichheit ist in Deutschland nach dem Gutachten im europäischen Vergleich hoch. Seit dem Jahr 2010 habe die Schere sich jedoch nicht weiter geöffnet. Unter Einbeziehung der Rentenansprüche verringert sich die Kluft „deutlich“, heißt es. „Um die private Vermögensbildung zu stärken, sollte ein staatlich gefördertes Vorsorgedepot eingeführt werden“, schreiben die Ökonomen.
Die Erbschaft- und Schenkungsteuer will das Gremium reformieren, um eine gleichmäßigere Besteuerung aller Vermögensarten zu erreichen. Dazu will der Rat die Begünstigung von Betriebsvermögen verringern. Bei kleinerem Betriebsvermögen (unter 26 Millionen Euro) will er den Verschonungsabschlag erheblich reduzieren. Für größere Betriebsvermögen sollte nach dem Gutachten „die Verschonungsbedarfsprüfung abgeschafft oder zumindest erheblich eingeschränkt werden“. Anpacken will der Rat das Konzept mit den Freibeträgen, die bisher alle zehn Jahre in Anspruch genommen werden können. Stattdessen könnte ein Lebensfreibetrag für alle im gesamten Leben erhaltenen Vermögensübertragungen eingeführt werden.
Sachverständige halten an progressiver Erbschaftsteuer fest
Damit die Unternehmen nach einer solchen Reform nicht kurzfristig zu viel Geld entzogen wird, weil die Anteilseigner Mittel brauchen, um die Steuer bezahlen zu können, empfehlen die Sachverständigen großzügige Stundungsmöglichkeiten. Zu den Steuersätzen selbst halten die Ökonomen sich bedeckt. Grundsätzlich will der Rat an der progressiven Ausgestaltung festhalten. Ein System mit einem niedrigen einheitlichen Satz für alle Schenkungen und Erbschaften, unabhängig von Verwandtschaftsgrad und Art des Vermögens, lehnen die Sachverständigen ab.
Viele Finanzwissenschaftler befürworten eine solche „Flat-Tax“. Wenn die Ausnahmen gestrichen würden, könnte mit einem niedrigen einheitlichen Satz das Steueraufkommen gehalten werden, ohne Unternehmenserben zu überfordern, lautet die Überlegung. Der Rat befürchtet aber, dass dann hohe Privatvermögen entlastet werden, „was dem Leistungsfähigkeitsprinzip zuwiderlaufen könnte“. Das Bundesverfassungsgericht prüft derzeit, ob die Ausnahmen für Unternehmenserben mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar sind. Ein Urteil wird in der näheren Zukunft erwartet. Die Erbschaftsteuer ist politisch brisant. Viele Familienunternehmen fürchten für den Fall, dass Betriebsvermögen im Übergang von einer Generation zur nächsten künftig voll besteuert werden, um ihre Existenz.
Ökonomen wollen andere Unternehmensbesteuerung
Den von Schwarz-Rot durchgesetzten Entlastungen bei den Gewinnsteuern bescheinigt der Rat positive Effekte. Die Senkung um fünf Prozentpunkte bis 2032 verspreche in Kombination mit temporär verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten langfristig stärkere Investitionen (2,4 Prozent höher) und ein höheres Bruttoinlandsprodukt (plus 1,3 Prozent) bei einem temporär spürbar geringeren Gesamtsteueraufkommen, schreibt der Rat. Ein Teil der Steuersenkung dürfte an die Arbeitnehmer in Form höherer Löhne weitergegeben werden.
Grundsätzlich werben die Ökonomen für ein neues Konzept der Unternehmensbesteuerung, das finanzierungsneutral ist. Fremdkapital wird heute geringer belastet als Eigenkapital. Eine neutrale Besteuerung zeige langfristig positive Ergebnisse wie einen deutlichen Anstieg der Investitionen, des Bruttoinlandsprodukts sowie der Gesamtbeschäftigung, heißt es im Gutachten. Doch wäre bei einer solchen Reform kurz- bis mittelfristig mit fiskalischen und gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen zu rechnen. So ist es wenig wahrscheinlich, dass die Politik die Anregung aufgreifen wird.