Rede zum 9. November: Steinmeier warnt eindringlich vor Gefahren zu Gunsten von Demokratie

Den 9. November in der deutschen Geschichte bezeichnet der Bundespräsident als Seismographen, der uns „die Erschütterungen, die Risse in unserer Gesellschaft“ zeige, „die Gefährdung unserer Demokratie“. „Wir wissen, wo es hinführt, wenn Menschen als vermeintlich Andere ausgegrenzt, verfolgt, gequält werden, wenn ihnen am Ende sogar jede Menschlichkeit abgesprochen wird“, sagt Frank-Walter Steinmeier. Das sei die Mahnung des 9. November 1938, der Reichspogromnacht. Der 9. November 1918 erinnere daran, wie kostbar Frieden und Demokratie seien, so schwer errungen und nie für alle Zeit garantiert. Schließlich der 9. November 1989, der Mauerfall, der gezeigt habe, wie stark man sein könne, wenn man gemeinsam für eine Sache kämpfe.
Wenn man diesen Seismograph richtig lese, sagt Steinmeier bei seiner Rede am Sonntag im Schloss Bellevue, „dann lässt er uns auch erkennen, was zu tun ist“. Und zu tun ist aus Sicht des Bundespräsidenten viel. Einer der Kernsätze seiner Rede ist: „Nie in der Geschichte unseres wiedervereinten Landes waren Demokratie und Freiheit so angegriffen.“ Er wird sich anschließend in seiner Rede vor allem mit den Gefahren für die Demokratie durch die AfD beschäftigen – ohne die Partei freilich direkt beim Namen zu nennen.
Staatsoberhaupt: Gesellschaft wirkt verunsichert
Der Bundespräsident zeigt sich zunächst besorgt über den wachsenden Antisemitismus im Land, der nicht zurück, sondern immer da gewesen sei – „aber sprunghaft angestiegen ist er seit dem 7. Oktober 2023 auch bei uns in Deutschland“, sagt Steinmeier. „Er kommt von rechts, von links und aus der Mitte, es gibt ihn unter muslimischen Einwanderern.“ Steinmeier sagt: „Ausgerechnet wir schaffen es nicht, diesem Antisemitismus Einhalt zu gebieten.“
Der Bundespräsident beschreibt eine „große Unruhe in einer Gesellschaft, die verunsichert wirkt“. Immer wieder begegne ihm die Frage, wie es weitergehe, wenn extreme Parteien stärker würden, oder Menschen mit Einwanderungsgeschichte oder Juden nicht mehr sicher seien. „Ist das möglich, dass wir nicht aus der Geschichte gelernt haben?“ Man müsse den Gefahren „illusionslos“ ins Auge sehen: „Wir dürfen nicht gleichsam hineinrutschen erst in eine neue Faszination des Autoritären und dann in neue Unfreiheit“ – und hinterher sagten alle, das habe man nicht gewusst.
Steinmeier führt aus, was man aus seiner Sicht wissen und tun kann. Er spricht von der größten Gefahr für die Demokratie seit der Wiedervereinigung, verweist auf den russischen Angriffskrieg und sagt, aktuell sei sie „bedroht durch rechtsextreme Kräfte, die unsere Demokratie angreifen und an Zustimmung in der Bevölkerung gewinnen“. Steinmeier fügt aber sogleich an: „Die Demokratie kann sich wehren!“
Warnung vor der AfD – ohne ihren Namen zu nennen
Dazu verweist der Bundespräsident zunächst auf die Instrumente des Rechtsstaates, bis hin zum Parteienverbot: „Eine Partei, die den Weg in die aggressive Verfassungsfeindschaft beschreitet, muss immer mit der Möglichkeit des Verbots rechnen.“ Auch verteidigt Steinmeier den Ausschluss von Extremisten von Beamtenstellen oder Wahlen. Ein solcher sei nicht per se undemokratisch. „Er ist Ausdruck der wehrhaften Demokratie!“
Der Bundespräsident mahnt aber auch die politischen Parteien davor, Extremisten an der Macht zu beteiligen. „Der waghalsige Versuch, Antidemokraten zu zähmen, indem man ihnen Macht gewährt, ist nicht nur in Weimar gescheitert“, sagt er. „Mit Extremisten darf es keine politische Zusammenarbeit geben.“ Auch Brandmauern seien „porös, wenn nicht auch Distanz zur Sprache, zu den Ressentiments, zu den Feindbildern der Rechtsextremen gewahrt wird“.
Steinmeier sagt, er wisse, „die Hauptlast dieser Abgrenzung, die tragen die politischen Kräfte Mitte-rechts“. Diese Last wiege schwer, aber diese Kräfte trügen sie nicht allein. Deshalb appelliert er auch an die politischen Kräfte Mitte-links: „Auch Sie tragen Verantwortung.“ Er spricht von der „Verantwortung des richtigen Maßes“. Es sei wenig hilfreich, „jede unliebsame Äußerung pauschal als ‚rechtsextrem‘ zu diskreditieren“. Es sei gefährlich, „wenn Themen wie Migration und Sicherheit nicht besprochen werden können, weil sofort der Rassismusvorwurf im Raum steht“. Das hieße, dem rechten Rand die Hegemonie über Themen zu überlassen, die die Gesellschaft beschäftigten. „Das darf nicht geschehen!“, so Steinmeier.
Auch an vielen anderen Orten wird am Sonntag dem 9. November gedacht. Kritik von der Linken erfährt am Wochenende Steinmeiers Vorgänger im Präsidentenamt, Joachim Gauck. Der beklagte in einem Interview, dass es zwar eingeübte Reflexe gegen rechts gebe, aber lange die Beschäftigung mit eingewandertem Antisemitismus, etwa aus dem arabischen Raum, vernachlässigt worden sei. „Manche haben auch Probleme, über linken Antisemitismus in Deutschland zu sprechen.“ Unterstützung erhielt Gauck unter anderem vom Zentralrat der Juden.
Der Bundespräsident endet in seiner Rede am Sonntag mit den Worten: „Vertrauen wir uns selbst! Tun wir, was getan werden muss!“ Es gibt stehenden Applaus im Schloss Bellevue.
Source: faz.net