„Bildrausch“ in Regensburg: Immer wieder die Kuh und die Venus
Er hat 1005 Gemälde hinterlassen, dennoch war Lovis Corinth lange Zeit ein ziemlich erfolgloser Maler. Sein erstes Bild verkauft er im Alter von 37 Jahren. Ohne die Unterstützung seines Vaters, eines Gerbers, wäre diese Berufskünstlerlaufbahn nicht denkbar gewesen. Geboren 1858 in Tapiau, einer ostpreußischen Kleinstadt mit Deutschordensburg am Pregel, die heute zu Russland gehört, absolvierte Corinth nach dem Gymnasium eine Ausbildung zum akademischen Kunstmaler, zunächst im benachbarten Königsberg, dann in München, Antwerpen und Paris.
Das Kunstforum Ostdeutsche Galerie zeigt nun anlässlich seines hundertsten Todestags eine Ausstellung über seinen „Bildrausch“, indem sie einen Einblick in die diversen Arbeitsstufen des Schnellmalers gibt, seinem Weg von der Zeichnung bis zum Gemälde folgt. Dabei ist die Verbindung zu Regensburg eher eine postume. Die Stadt war nach dem Krieg eine Anlaufstelle für Vertriebene, und mit dem Kunstforum beherbergt sie ein Museum, das der Pflege des ostdeutschen und osteuropäischen Kunstschaffens verpflichtet ist. Corinth wird hier seit Langem gesammelt, das Kunstforum besitzt zwölf Gemälde, alle Skizzenbücher sowie mehr als 500 Papierarbeiten.

Beruflich lief es für Corinth in Bayern nichts besonders, und da er in München viel Kritik erfährt und Selbstzweifel erntet, zieht er 1901 nach Berlin und eröffnet eine Malschule. Als Aktmodell kommt die einundzwanzigjährige Charlotte Berend ins Haus, die er bald darauf heiraten wird. Sie überlebt ihn, der 1925 bei einer Reise nach Zandvoort einer Lungenentzündung erliegt, um 42 Jahre. Die meisten davon verbringt sie mit der Erstellung des Werkverzeichnisses. Sohn Thomas und Tochter Wilhelmine bewirtschaften von New York aus den Nachlass, verkaufen einzelne Blätter aus den Skizzenbüchern, auch nach Regensburg.
Die Kinder seien mit der „Ruhmverwaltung“ ausgelastet gewesen, sagt Mona Stocker, Sammlungsleiterin Gemälde und Skulptur, die zusammen mit Sebastian Schmidt die Ausstellung kuratiert hat. Wilhelmine sei Jahr für Jahr nach Deutschland gereist und habe mit Museen über Ausstellungen verhandelt, Mutter und Tochter schrieben Bücher, bespielten das Nachleben Corinths strategisch. So zerstreute sich das Riesenwerk auf viele Museen und Privatsammlungen – und blieb auf diese Weise immer irgendwo präsent. Tatsächlich steht die nächste Ausstellung vor der Tür, das Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte eröffnet am 22. November „Corinth werden! Der Künstler und die Kunstgeschichte“.

Ausgangspunkt sind zwölf Skizzenbücher und ein privates Skizzenalbum, das gezeichnete Pendant zu einem Fotoalbum. Dabei nutzte Lovis Corinth die Fotografie sehr wohl, er ließ jedes seiner Bilder von einem Profi zu Dokumentationszwecken ablichten. Wirklich einlösen kann die Ausstellung ihr ambitioniertes Programm nur, wenn der Besuch durch Lektüre der beiden Katalogbände ergänzt wird. Der Bestandskatalog erschließt alle Skizzenbücher, der Ausstellungskatalog berichtet über Röntgenanalysen, die Corinths Malprozess detailliert aufschlüsseln halfen.
Im Foyer läuft ein kurzer Film aus dem Todesjahr des Malers, Titel „Schaffende Hände“. Digitale Technik kommt auf Monitoren zum Einsatz, auf denen man sich Seite für Seite durch die Skizzenbücher klicken kann. Sie zeigen, wie akribisch der Maler Vor- und Nachbereitung betrieb. Die Reihenfolge war auf den ersten Blick klassisch, nach der Bleistift- eine Ölskizze, dann das Gemälde. Häufig schiebt Corinth Jahre später noch eine Radierung hinterher. Dieses Denken in Konstellationen, der Rekurs auf wiederkehrende Motive, prägt sein Werk.

Da ist zunächst das einfache, bäuerliche Leben, wie er es in der Jugend erlebt hat, Stadtansichten, Genreszenen des täglichen Landlebens. Und doch haben die gezeichneten Kühe aus dem Skizzenbuch von 1879 mit dem Ölbild „Kuhstall“ von 1922 nur noch das Motiv gemein, das Gebälk des Stalls ist noch einigermaßen gegenständlich, das Fleckvieh löst sich auf in kräftige schwarze, weiße und gelbe Pinselstriche. Corinth auf dem Weg in die Abstraktion? „Die Farbflecken wirken abstrakt, sollen es aber nicht sein“, ist Stocker überzeugt. Frisch restauriert, präsentiert „Geschlachteter Ochse“ (1905) die Frontalansicht eines zum Ausbluten aufgehängten Rinderrumpfes, den Betrachter direkt angehend. Das Bild ist weiter in der Moderne als der güldene Prunkrahmen aus der Berliner Rahmenwerkstatt Oskar Weber, der in eigentümlichem Kontrast zur Radikalität des Gezeigten steht.
Seinen Vater hat Corinth immer wieder porträtiert, das erste Selbstporträt malt er 1878. Zehn Jahre später „Der Vater des Künstlers auf dem Krankenlager“ (1888), das letzte Porträt vor dessen Tod, eine Leihgabe aus dem Städel. Die Beziehung zur früh verstorbenen Mutter scheint kein Thema gewesen zu sein. Ein Ende 1911 erlittener Schlaganfall macht seine Zeichnungen fahriger, wütender. Zwei Jahre nachdem er in Berlin zum Professor ernannt wurde, kaufte der vom Untergang der Monarchie aufgewühlte Maler („Ich fühle mich als Preuße und kaiserlicher Deutscher“) 1919 ein Grundstück am Walchensee, seine Frau baut ihm ein Haus. Dort malt er fleißig Landschaften zu allen Jahreszeiten, sechzig Bilder, die ihm nach eigener Aussage „förmlich von der Staffelei gerissen“ wurden.

Ein von der damals dreizehnjährigen Tochter handgefertigtes Album bearbeitet er immer wieder mit neuen Skizzen. Ein Bild wie „Walchensee im Winter“ (1923) ist durchaus konventionell, es zeige ihn, so die Kuratorin, als „Mann des neunzehnten Jahrhunderts“. Die Anmache-Pose eines jungen Mannes mit offenem Hosenstall auf dem Bild „Im Fischerhaus“ (1886) gefiel dem „Führer“, während hingegen das aus heutiger Sicht harmlose „Der Jochberg am Walchensee“ (1924) von den Nationalsozialisten als „entartet“ eingestuft wurde.
Aus der Werkgruppe Akt setzen nach den beschaulichen Landschaftsbildern die im Pariser Salonstil gemalten „Drei Grazien“ (1904) mit viel nackter Haut ein Ausrufezeichen in Lebensgröße. Und „Die Geburt der Venus“ (1923) reiht sich in die Auseinandersetzung mit Figuren der Mythologie wie „Diogenes“ (1891), der mit einer Lampe auf dem Marktplatz von Athen nach Menschen sucht. In der linken Bildhälfte Volk, das über den Philosophen rätselt, ganz rechts zwei schemenhafte nackte Knaben und die Beine eines dritten, die Funktion dieser Figuren gibt Rätsel auf. Das großformatige Gemälde hängt im Großen Saal, der letzten Station, dort auch das „Porträt Andreas Weißgerber (stehend)“ von 1919. Es zeigt den neunzehnjährigen Geigenvirtuosen, der während der Sitzung im Atelier stundenlang spielte, bis er erschöpft aufgab. Diesen Moment hielt Corinth dann in einem zweiten, eilends gemalten Bild fest – ausgelaugt, glücklich.
In der Tradition von Rembrandt und von Corinths Idol Frans Hals steht „Das große Martyrium“ (1907), aus dem Bestand der Ostdeutschen Galerie. Ein nackter Jesus mit schmerzverzerrtem Gesicht, der von den Schächern ans Kreuz geschlagen wird. Als Vorlage holte sich Corinth einen athletisch gebauten Mann ins Atelier, den er an einen Birkenstamm fesseln ließ, der im Bild zu sehen ist. Eine düstere Coda.
Lovis Corinth – Bildrausch. Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg; bis 18. Januar 2026. Der Ausstellungskatalog (Sandstein Verlag) kostet 24, der Bestandskatalog der Skizzenbücher 35 Euro.

Source: faz.net