Drogenbeauftragter Hendrik Streeck: „Haftbefehl hat welcher Gesellschaft ein Geschenk gemacht“
Die Netflix-Produktion „Babo – Die Haftbefehl-Story“ über den 39-jährigen Rapper Aykut Anhan, bekannt als Haftbefehl, hat in kürzester Zeit beeindruckende Erfolge erzielt: In Deutschland, Österreich und der Schweiz belegte die Doku Platz eins der Streaming-Charts und wurde innerhalb von nur sechs Tagen 4,1 Millionen Mal abgerufen. Sie zeigt den Elendsstrudel, in den der Musiker durch seine jahrelange Kokainsucht geraten ist. Anhan kokst nach eigenen Angaben seit 25 Jahren. Wie konnte er das überhaupt überleben?
Der Freitag hat sich im Bundestag mit dem Drogenbeauftragten Hendrik Streeck (CDU) Passagen aus der Doku angesehen. Mit welchen Gefühlen hat er den Film geguckt? Und wie groß ist das Problem mit dem weißen Pulver überhaupt in Deutschland? Ein Gespräch über die vorbildliche Rolle eines Gangsterrappers – und die Frage, ob man im Bundestag nicht auch manchmal auf Kokser trifft.
der Freitag: Herr Streeck, auch Sie haben die viel beachtete Haftbefehl-Doku gesehen. Wie guckt ein Bundesdrogenbeauftragter so einen Film? Sitzt er zu Hause auf der Couch mit Popcorn auf dem Schoß? Oder haben Sie das während der Arbeitszeit im Bundestag geguckt?
Hendrik Streeck: Ich bin relativ spät von einem Abendtermin nach Hause gekommen und wusste, dass ich früh raus muss. Trotzdem habe ich mich dann noch an den Laptop an meinem Schreibtisch gesetzt und die Doku angefangen. Eigentlich wollte ich nur kurz reinschauen – aber dann hat es mich zu sehr gefesselt, und ich habe bis zum Schluss geguckt.
Ich habe mir überlegt, dass wir ein paar Szenen aus der Doku gemeinsam schauen – in Ordnung?
Klar.
Wir gucken den Ausschnitt, wo Haftbefehl im Jahr 2022 bei einem Auftritt im Mannheimer Club „Hafen49“ vor jubelndem Publikum kollabiert. Er hält sich an einem Geländer fest und sackt in sich zusammen. „Das war der erste Tag, wo es an die Öffentlichkeit ging“, kommentiert Haftbefehls Bruder im Film die Szene. Was er meint: Ab diesem Tag war klar, dass Haftbefehl ein Problem mit Drogen hat – wenn auch damals noch darüber spekuliert wurde, der Rapper sei bloß „sturzbetrunken“ gewesen …
Man könnte wirklich denken, er ist einfach betrunken – oder?
Das war eigentlich nicht mein erster Gedanke. Ich habe bei der Szene schon an Kokain gedacht. Man sieht in diesem Moment den Raubbau an seinem Körper. Kokain hat ja diese Wirkung: Der Körper wird leistungsfähiger, ohne dass ihm mehr Energie zugeführt wird. Die Energie muss aber irgendwo herkommen, also geht man an die eigene Substanz, und irgendwann ist einfach keine Energie mehr da. Man bricht zusammen – wie in dieser Szene.
Warum soll es ein Recht auf Rausch geben? Als Arzt sage ich: Die größte Freiheit im Leben ist die Freiheit von Krankheit
Wie groß ist eigentlich das Kokainproblem in Deutschland?
Um es offen zu sagen: Wir können es gar nicht genau sagen. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen ein und zwei Prozent der Erwachsenen regelmäßig konsumieren – das ist das Berliner Olympiastadion siebenmal komplett besetzt. Und auch die Zahlen zu den Drogentoten geben Hinweise: 2024 sind zum Beispiel 61 Menschen in Deutschland an einer „monovalenten Vergiftung“ durch Kokain oder das Straßenkokain Crack gestorben. Das heißt, sie hatten keine weiteren Substanzen wie Alkohol oder anderes im Blut. 637 Menschen sind hingegen an einer „polyvalenten“ Vergiftung gestorben – bei diesen Verstorbenen wurde neben Kokain oder Crack auch noch mindestens eine zweite Substanz im Blut nachgewiesen. Das ist übrigens ein riesiges Problem: Deutlich mehr Rauschgiftabhängige konsumieren viele Substanzen gleichzeitig und häufig hochgefährliche Kombinationen der Substanzen, die tödlich wirken können.
Warum können wir nicht genauer sagen, wie viele Menschen in Deutschland Koks nehmen?
Wir haben Daten aus großen Bevölkerungsbefragungen, aber das hilft uns nur ansatzweise. Nicht jeder gibt zu, dass er eine illegale Droge nimmt. Daher müssen wir hier bessere Daten bekommen, um zu wissen, wer eigentlich auf Kokain zurückgreift, um dort durch Prävention, Aufklärung und Frühintervention reingehen zu können. Ich gehe davon aus, dass Kokain in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und es ganze Gruppen, ganze soziale Milieus gibt, in denen der Konsum völlig normal geworden ist.
Aber wir wissen nicht genau, welche gesellschaftlichen Gruppen besonders betroffen sind?
Nein, noch nicht konkret, weil die Gruppe sehr heterogen ist.
Erinnern Sie sich noch daran, dass die Linkspartei 2011 Kokain legalisieren wollte?
Ach, da muss man gar nicht so weit in der Geschichte zurückgehen. Die Julis in Hessen haben das noch bei der letzten Bundestagswahl gefordert! (lacht)
Gibt es denn nicht so etwas wie ein „Recht auf Rausch“?
Bitte? Ein Recht auf Rausch? Das wird immer an der Frage der Freiheit festgemacht – ich sage als Arzt: Die größte Freiheit im Leben ist die Freiheit von Krankheit. Ehrlich gesagt, frage ich mich: Warum hat sich evolutionär Sucht überhaupt durchgesetzt? Warum haben Menschen und Tiere überhaupt noch das Verlangen nach Rausch und die Veranlagung dazu?
Und warum?
Das weiß ich nicht. Ich habe zwar Theorien, das müssten wir anderweitig wissenschaftlich erklären.
Sie wollen ändern, dass Menschen süchtig werden. Deswegen sind Sie eher ein Anhänger der restriktiven Drogenpolitik …
Nein, eine gründlichere Vorbereitung von Ihnen auf das Interview hätte dieses wohl anders lesen lassen. In all meinen Interviews sage ich, dass es mir nicht um Moral oder Sitte geht. Ich bin Arzt! Mir geht es darum, Menschen zu helfen, und das ist keine Frage von Ideologie. Das ist weder konservativ noch progressiv. Es ist nicht rechts, es ist nicht links. Als Arzt und Wissenschaftler suche ich Wege, die das Beste für die Gesellschaft sind: Schaden minimieren, Abhängige schützen und vielleicht rausführen aus der Sucht. Bei Sucht- und Drogenerkrankten geht es um die Schwächsten der Gesellschaft, und die brauchen unsere Hilfe. Die Stärke eines Gesundheitssystems zeigt sich immer am Umgang mit den Schwächsten – und hier sieht man, dass das Gesundheitswesen an sich erkrankt ist.
Beim Umgang mit Drogen gibt es keinen perfekten Weg. Vom gesundheitlichen Standpunkt gesehen wäre es am besten, wenn Drogen natürlich gar nicht mehr konsumiert würden. Aber das ist utopisch
Da könnte Portugal ein Vorbild sein: Vor mehr als 25 Jahren steckte das Land in einer tiefen Drogenkrise, in der mehr als 365 Personen pro Jahr an einer Überdosis gestorben sind. Doch statt härtere Gesetze durchzusetzen, hat Portugal die Strafen für bestimmte Besitzmengen niedriger gehängt: Ab sofort durfte man zwei Gramm Kokain und 25 Gramm Cannabis bei sich tragen. Kritiker gingen davon aus, dass sofort die Zahl der Konsumenten steigen würde. War aber nicht so. Ist das der richtige Weg?
Der portugiesische Weg hat einige positive Aspekte: Besitz und Konsum sind zwar eine Ordnungswidrigkeit, aber es gibt keine dramatische Strafkomponente. Die Leute kommen nämlich nicht ins Gefängnis, sondern verpflichten sich, eine Suchthilfe aufzusuchen. Anstatt auf Strafe wird auf Therapie gesetzt. Das – also die sofortige Hilfe – ist ein richtig guter Ansatz, da habe ich überhaupt nichts gegen.
Würden Sie diesen Weg für Deutschland auch präferieren?
Wir müssen erst mal festhalten: Beim Umgang mit Drogen gibt es nicht den einen perfekten Weg. Vom gesundheitlichen Standpunkt gesehen wäre es am besten, wenn Drogen natürlich gar nicht mehr konsumiert würden. Aber das ist utopisch. In einigen Bereichen in unserem Rechtssystem gehen wir ja in die Richtung des portugiesischen Wegs: Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung absehen, wenn Betroffene Hilfe in Anspruch nehmen. Auch die Gerichte können Verfahren gegen entsprechende Auflagen einstellen. Und auch wenn – und das passiert nicht, nur weil jemand mal eine Dosis zum Eigenkonsum bei sich hat – eine Gefängnisstrafe verhängt wird, gibt es die Möglichkeit von „Therapie statt Strafe“. Das ist aus menschlicher Sicht zu befürworten. Als Wissenschaftler habe ich natürlich große Sympathie dafür, das alles noch viel systematischer und besser zu machen. Voraussetzung ist aber natürlich auch, dass vor Ort überhaupt genügend Beratungs- und Hilfsangebote bereitstehen.
Placeholder image-1
In den Nullerjahren hat Ihr Parteifreund Hubert Hüppe gesagt: „Im Bundestag würden Drogenhunde anschlagen.“ Mal Hand aufs Herz: Wie oft sieht man hier im Parlament Leute Drogen nehmen?
Außer Alkohol und Tabak habe ich hier keinen Drogenkonsum gesehen. Ich bin nicht die Polizei. Das ist auch nicht meine Aufgabe.
Wollen wir uns noch eine Szene aus der Haftbefehl-Doku ansehen?
Gern.
Wir gucken die Szene, in der Haftbefehl wiederbelebt werden muss, nachdem er zu viel Kokain genommen hat. „Ein Gramm links, ein Gramm rechts“ – so beschreibt der Musiker selbst den Moment, als er sich fast in den Tod gekokst hätte. Streeck starrt gebannt auf den Bildschirm. Nachdem er aufwachte, sei er sofort aus dem Krankenhaus gestürmt, um „weiterzumachen“, sagt Haftbefehl. Nach eigenen Angaben nahm er nur kurz nach seinem Nahtoderlebnis sofort wieder zehn Gramm.
Zehn Gramm sind viel, oder?
Das ist irre viel. Man kann nicht genau definieren, wie viel eine „Line“ ist. Häufig ist es ein Zehntel eines Gramms. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie jemand zehn Gramm überleben kann. Das ist eine so hohe Dosis! Irgendwann setzt eine Gewöhnung ein, und man kann immer mehr konsumieren. Aber zehn Gramm können schon zur tödlichen Dosis werden. Haben wir ja gesehen in der Szene …
Finden Sie die Doku eigentlich gut gemacht? Oder wird da Drogenkonsum nicht auch heroisiert?
Heroisch finde ich es nicht. Im Gegenteil, ich habe einen riesigen Respekt vor Aykut, dass er so offen über seine Kokainsucht – und vor allem, was die aus ihm gemacht hat – spricht. Das macht es so authentisch, so ehrlich. Das ist ein Geschenk, das er der Gesellschaft gemacht hat, seine Geschichte uns allen so zur Verfügung zu stellen. Er hätte eine ganz andere Geschichte über sich erzählen können, wenn er gewollt hätte. Aber er hat Mut gezeigt. Es braucht ja Mut, so tiefe Einblicke zu gewähren. Ich bin davon überzeugt, dass die Macher eigentlich eine andere Doku drehen wollten. Aber sie haben sich entschieden, über diese Problematik zu reden. Das hilft auch gesamtgesellschaftlich in der Aufklärung zu Sucht- und Drogenfragen.
Leider sucht sich nur ein kleiner Anteil Hilfe. Wenn man auf die Zahlen der Suchtberatungsstellen und Therapieeinrichtungen schaut, sind es vielleicht fünf Prozent
Haben Sie Haftbefehl schon ein Gesprächsangebot gemacht? Ihn angerufen und um ein Treffen gebeten?
Nein. Ich habe mich aber öffentlich dazu geäußert, dass ich ihm Respekt zolle und dafür dankbar bin. Dass wir in unserer Arbeit auch mit Akteuren aus dieser Szene zusammenarbeiten wollen, gehört zu meinem Anspruch: „Aufklärung auf Augenhöhe“.
Wir gucken noch eine letzte Szene zusammen – jene, in der Aykut Anhan gegen seinen Willen von seinem Bruder in eine Istanbuler Entzugsklinik eingeliefert wird. „Der Bruder ist echt ein Fuchs“, ruft Streeck zwischendurch. „Der ist genial!“ Das sei seine Lieblingsszene in der ganzen Doku gewesen …
Der Bruder hat ihm das Leben gerettet. Die Szene zeigt eine Sache ganz deutlich: Anhan hat offensichtlich ein starkes soziales Umfeld, das ihn da rausgeholt hat. Das haben viele Kokain- oder Crackabhängige leider nicht. Aber diese Menschen brauchen Hilfe, sonst schaffen sie den Absprung meist nicht.
Aber heißt es nicht immer, dass Abhängige selbst begreifen müssen, dass sie ein Problem haben? Das war hier ja offensichtlich anders – Haftbefehl wurde quasi unter Zwang von seinem Bruder eingeliefert. Kann das trotzdem klappen?
Das ist sehr individuell, da gibt es kein Patentrezept. Es stimmt schon: In der Suchthilfe heißt es meistens, der Süchtige muss selbst wollen. Das hängt aber, wie gesagt, auch sehr vom sozialen Umfeld ab und davon, ob man überhaupt noch selbst entscheidungsfähig ist – also dazu in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen. Wir sprechen hier oft von Menschen, die einen massiven Suchtdruck haben und deren einziger Gedanke um den nächsten Drogenkick kreist und wo sie den herbekommen. Manche – unter anderem Crackabhängige – „vergessen“ sogar zu essen und zu trinken.
Wie viel Prozent der Süchtigen suchen sich Hilfe?
Das ist leider nur ein kleiner Anteil. Wenn man nur auf die Zahlen der Suchtberatungsstellen und der ambulanten und stationären Therapieeinrichtungen schaut, dann sind es vielleicht fünf Prozent. Aber auch hier fehlen uns bessere Daten: Ärzte behandeln in der Praxis, es gibt Beratungstelefone, es gibt niedrigschwellige Angebote – auch anonym – vom Drogenkonsumraum bis zur Notschlafstelle. All das hat auch einen Impact. Im Drogen- und Suchtbereich brauchen wir dringend bessere Daten, gerade wenn es um die Entwicklungen auf dem Drogenmarkt geht. Ich setze mich deshalb für ein flächendeckendes und länderübergreifendes Monitoring- und Frühwarnsystem ein. Da sollen alle Daten einfließen – von Rettungsstellen bis Polizeien und Suchthilfe –, um im Idealfall in Echtzeit Warnungen über neue Trends herausgeben zu können, an Rettungskräfte, aber auch an Konsumierende. Sowas gibt es etwa in Schottland, und das kann echt Leben retten.
Glauben Sie, Haftbefehl wird clean bleiben?
Der erste und entscheidende Schritt ist die Abstinenz. Der zweite, aber härtere Schritt ist, abstinent zu bleiben. Da gehört viel Kraft und natürlich Therapie dazu. Aus der Doku höre ich heraus, dass er sich in Therapie befindet. Er sagt selbst zu dem Reporter: „Du klingst wie mein Therapeut.“ Ich jedenfalls wünsche ihm das von Herzen und kann mir gut vorstellen, dass er das schafft. Er hat ein starkes Umfeld und gute Menschen um sich herum, die ihn begleiten.