Nachwendezeit | „Erzählte Welt“: Steffen Martus schreibt die Geschichte dieser Gegenwartsliteratur
Zeitgeschichte, nach Hans Rothfels, „die Epoche der Mitlebenden“, hat ein Konglomerat von Zeitzeugen und Zeiterzeugenden im Blick, noch immer wesentlich das der Zeit nach 1945. Auch wenn sich Historiker in jüngerer Zeit dabei immer mehr auch mit der Literatur auseinandersetzten, ist zeitgenössische Literatur weder Aktenkeller noch Rumpelkammer der Zeitgeschichte, sondern deren siamesische Zwillingswelt.
Und so kommt umgekehrt eine Literaturgeschichte der Gegenwart nicht ohne Geschichts- und Sozialwissenschaft aus. Mehr noch: Diese hier – von Steffen Martus – schreibt als Geschichte der Gegenwartsliteratur, auch wenn sie entgegen dem Titel Erzählte Welt zunächst damit kokettiert, keine sein zu wollen, nicht nur an der Zeitgeschichte mit, sondern ist selbst erzählte Zeitgeschichte par excellence.
Diese Geschichte ist kein Abgesang
Und wahrscheinlich dabei die letzte ihrer Art, denn sie demonstriert, dass und wie sehr Literatur in Mentalitäts-, Medien- und Ökonomieverhältnisse ebenso eingebunden ist, wie ihre Geschichtsschreibung nicht ohne die fachwissenschaftlichen Erkenntnisse dazu auskommt. Wiewohl diese Geschichte der Gegenwartsliteratur zwar mit einem Abgesang beginnt, ist sie selbst keiner.
Im Gegenteil: „Weder geht es dabei um eine Erfolgsgeschichte noch um eine Geschichte des Niedergangs, sondern um eine des Wandels, in der Gewinne und Verluste untrennbar zusammengehören.“ Damit ist der Ton gesetzt. Und tatsächlich ist das trotz der marktgesteuerten Desillusionierung des „Kulturguts“ Literatur/Buch keine Verfallsgeschichte, sondern eine mit geradezu Georg-Simmel’scher Gelassenheit beobachtende und begründende Berechnung von Konjunkturen und Konstellationen, Kosten und Nutzen.
Und es ist – auch dies vorweg – nicht schon die stupende literatur-, kultur-, politik- und sozialwissenschaftliche Informiertheit das einzige Prä dieses Buchs, obgleich das für sich langte, sondern obendrein die immer neu verblüffende Fähigkeit zur Entdeckung, Beobachtung, Einordnung und exemplarischen Deutung von Texten, Phänomenen und Konstellationen – in einer klugen, stilsicher eleganten Sprache, wie sie im intellektuellen Feuilleton der 1990er Jahre ausgebildet wurde.
Das Jahr 1989 ist bei Steffen Martus eine Zäsur
Das ist auch in der Sache begründet, denn das Feuilleton war und ist immerhin noch der Ort der je aktuellen Verhandlungen dessen, was hier infrage steht. Wobei, es gehört auch zu den Stärken dieses Buchs, dass es die Nutzungsformen der sozialen Medien von Autoren, Verlagen und Publikum nicht nur als Quellen, sondern als Akteure einbezieht und von daher eine grundlegende Verschiebung deutlich macht.
Das Jahr 1989 ist hier eine Zäsur, in deren Kontext „die Literatur ihr Ansehen als gesamtgesellschaftlich relevantes Phänomen“ einbüßte – „im Osten schlagartig, im Westen schleichend“. Letzter Auftritt des Typus der Großschriftsteller, Zeitdeutenden oder GesellschaftsrepräsentantInnen.
Martus verfolgt die jeweiligen Spannungs- und Auflösungsversuche, die Pendelbewegungen und das Driften dazwischen. Ihm gelingt es dabei, immer wieder exemplarisch entscheidende Akteure und auftauchende Problemstellungen anschaulich und überzeugend zu analysieren.
Von Popliteratur über „Fräuleinwunder“
Da sind zunächst historische Ereignisknoten – wie 1989 und die „deutsche Einheit“, Nine Eleven, die Finanzkrise – als Herausforderungen, die von der Literatur angenommen und unterschiedlich angegangen werden. Dazu kommen damit zusammenhängende Debatten, Aspekte wie Radikalismus, Gewalt und Terror, Ökonomie und Klassismus, Migration, Identitäts- und Sprachpolitik, dazwischen und damit je verknüpft ökonomisch, sozial und medial getriggerte immanente Problemstellungen der Literatur – etwa Marketing und Eventisierung, Digitalisierung, verändertes Leseverhalten, Rezipienten-Ermächtigung etc. Und damit verbundene Konjunkturen, von Popliteratur über „Fräuleinwunder“ und neurechte Buchpolitik, Crossover oder New Adult.
Und das alles jeweils nicht nur summarisch, sondern in prägnanten, von Scharfsicht, der Lust am Aperçu und unerwarteten Deutungsvolten getragenen Einzelanalysen und Konstellationsbeschreibungen. Hier müssten, wäre der Platz dafür, eigentlich reihenweise Belege stehen, etwa zur Sicht auf Christa Wolf, Günter Grass, Botho Strauß, Uwe Tellkamp, Charlotte Roche, Judith Hermann, Jan Brandt, Daniel Kehlmann, Christian Kracht, Wolfgang Herrndorf oder Feridun Zaimoglu – you name it.
Wenigstens ein Beispiel für die intellektuelle Raffinesse bei lesefreundlichstem Duktus: Die Corona-Zeit spiegelt Martus anhand zweier Romane, die knapp davor erschienen, Sibylle Bergs GRM und Leif Randts Allegro Pastell. Sie bieten ihm Gelegenheit, „noch einmal über die großen Spielräume des literarischen Felds nachzudenken sowie über die Formen, mit denen wir von unserer Welt und Weltwahrnehmung erzählen“.
Mag der eine oder andere Name vermisst werden, man hat keinen Moment lang das Gefühl, hier fehle etwas. Oder doch? Zumindest eine Gruppe ist auffällig abwesend, eine, die in gewisser Weise eine literarische Konkurrenz zu Martus’ literaturwissenschaftlichem Buch darstellt, die der Langzeitbeobachter. Gerhard Henschel, Michael Kleeberg, Peter Kurzeck oder Andreas Maier. Ansonsten aber ist das ein Buch, das mit stupendem Weit- wie Nahblick im Feld der Literatur so durch unsere Jüngstgeschichte führt, dass man von Literatur, Geschichte und Gesellschaft mehr versteht, als man je zu verstehen können glaubte.
Erzählte Welt. Eine Literaturgeschichte der Gegenwart, 1989 bis heute Steffen Martus Rowohlt Berlin 2025, 704 S., 38 €