Atomwaffen: Braucht Deutschland die Atombombe, Claudia Major?

Dieses Interview mit der Sicherheitsexpertin Claudia Major basiert auf Auszügen eines Gesprächs für das neue Format „Nur eine Frage“ (N1F). Es erscheint als Video, Podcast, Text und Newsletter bei  

Claudia Major ist eine der profiliertesten deutschen Sicherheitsexpertinnen. Sie ist Vizepräsidentin für transatlantische Sicherheitsinitiativen beim German Marshall Fund und berät die Bundesregierung. Das Gespräch fand vor der Ankündigung Donald Trumps statt, wieder Atomwaffentests durchzuführen.

Redaktion: Jens Lubbadeh, Carl Friedrichs 

DIE ZEIT: Braucht
Deutschland die Atombombe, Frau Major?

Claudia Major: Deutschland braucht
nukleare Abschreckung. Aber das heißt nicht, dass Deutschland eigene Atombomben
benötigt. Ich bin manchmal überrascht über diese Debatte. Die Deutschen, die
Europäer, könnten ganz viel machen vor dem nuklearen Schritt. Allein der Ausbau
der konventionellen militärischen Fähigkeiten wäre ein Riesenbeitrag für die
europäische Verteidigung.

ZEIT:
Früher
haben die USA die nukleare Abschreckung für Europa garantiert. Spätestens seit
dem Auftritt des US-Vizepräsidenten JD Vance bei der Münchner
Sicherheitskonferenz erscheinen sie nicht mehr als besonders verlässlicher
Partner.

Major: Ja, politisch-rhetorisch benehmen sich die USA
teils nicht mehr als Partner. Aber praktisch haben sie bei der Abschreckung
keine substanziellen Veränderungen vorgenommen, also etwa keine Waffensysteme
abgezogen. Dieses Spannungsfeld macht die Bewertung so schwierig. Hinzukommt,
dass Atomwaffen nicht für die Kriegsführung bestimmt sind, sie sind politische
Waffen. Sie sind ein Signal an potenzielle Gegner, in diesem Fall an Russland.
Sie sollen sagen: Ein Angriff lohnt sich nicht, weil die Kosten höher wären als
die erhofften Gewinne. Wenn Abschreckung funktioniert, ist es eine
Kriegsverhinderungsstrategie. Dafür gibt es in Europa amerikanische, aber auch französische
und britische Atomwaffen. Jetzt kommen wir in eine Situation, wo wir nicht mehr
wissen, ob das funktioniert. Einerseits, weil Russland die Ukraine erneut
überfallen hat. Das hat gezeigt, dass für Russland Krieg führen effizient und
legitim ist. Und andererseits, weil Russland diesen Krieg selbst nuklear
unterfüttert hat.

ZEIT:
Was
heißt „nuklear unterfüttert“?

Major: Russland droht mit dem Einsatz von Atomwaffen,
vermutlich, um die Ukraine zur Aufgabe zu bringen und um westliche Staaten von
der Unterstützung für die Ukraine abzuhalten und ihnen zu signalisieren,
dass sie sich heraushalten sollen. Moskau hat zu verstehen gegeben, dass es
möglicherweise doch Atomwaffen in diesem Krieg einsetzen könnte. Das ist eine
sehr beunruhigende Veränderung.  


Atomwaffen: Braucht Deutschland die Atombombe, Claudia Major?

ZEIT:
Funktioniert
die nukleare Abschreckung also nicht mehr?

Major:
Doch, sie funktioniert. Das zeigt dieser
Krieg, denn bislang hat Russland jeglichen militärischen Konflikt mit den
westlichen Staaten vermieden. Es gab keinen Angriff auf die Nato. Die
Abschreckung hat also die Nato-Staaten geschützt. Sie hat aber auch Russland
geschützt, weil die westlichen Staaten ihre Unterstützung für die Ukraine so
vorsichtig kalibrieren – aus Angst vor den nuklearen Drohungen Russlands. Nukleare
Abschreckung hat also in diesem Krieg funktioniert. Aber Russland nutzt die
atomare Abschreckung, um unter dem Schutz seiner Atomwaffen einen Krieg gegen
die Ukraine zu führen, Gebiete zu annektieren, Grenzen zu verschieben. Das ist
ein fundamental anderes Verständnis von nuklearer Abschreckung, als wir es
vorher hatten. Und das beunruhigt natürlich die Europäer und die Nato zutiefst.
Abschreckung wurde traditionell als Verteidigung des Status quo verstanden: Die
Nato und Russland schützen jeweils ihre Grenzen und die bestehende Ordnung.
Russland hat nun unter dem Schutz seiner Atomwaffen die bestehende Ordnung
verändert: Es hat Grenzen verschoben und vier ukrainische Regionen annektiert.
Das ist ein anderes, aggressiveres Verständnis als das bisherige Status-Quo-Denken.

ZEIT: In den vergangenen Wochen
gab es in Europa allerdings deutlich mehr Provokationen: Plötzlich wurden noch
mehr Drohnen als sonst gesichtet, auch in Deutschland, russische Flugzeuge sind
in den Nato-Luftraum eingedrungen. Wie blicken Sie auf diese Aktionen?

Major: Diese Überflüge von russischen Drohnen, die
russischen Jets im estnischen Luftraum oder das Eindringen von russischen
Drohnen in den polnischen Luftraum gehören für mich alle zu dem Teil, den ich
Konflikt nenne. Das ist die große Grauzone zwischen Krieg und Frieden, in der
Gewalt angewendet wird, die aber nicht unbedingt einen klaren militärischen
Charakter hat. Das ist eindeutig der Versuch, die öffentliche Ordnung, das
Vertrauen in die demokratischen Staaten zu unterminieren. Den beobachten wir
nicht erst seit diesem Jahr, sondern seit 2022 und zum Teil schon vorher. Dazu
gehören die Angriffe auf kritische Infrastruktur wie Unterseekabel, aber auch
Propaganda, Sabotage oder eben Drohnenüberflüge. Das Ausmaß ist allerdings neu.
Die Herausforderung für die EU und Nato bleibt: Wie reagiert man darauf, wenn
nicht ganz klar ist, wer es eigentlich war? Und selbst wenn man weiß, wer es
war, was ist die richtige Reaktion, um die Abschreckung wiederherzustellen? Da
haben die Europäer noch nicht die perfekte Antwort gefunden.

ZEIT:
Funktioniert
die Abschreckung denn wirklich noch? Bei einem US-Präsidenten, der solch einen
Schlingerkurs fährt?

Major:
Abschreckung findet im Kopf statt. Zwei Dinge
sind wichtig: Glauben die Nato-Staaten daran, dass die USA im Notfall für sie
einstehen würden? Und glaubt Russland, dass die Nato zusammensteht? Man kann
sehr salopp sagen: „Der Köder muss dem Fisch schmecken.“

ZEIT:
Aber
wenn ich das schon nicht glaube, wieso glauben Sie dann, dass Putin es glaubt?

Major:
Er muss jeden Morgen auf das Nato-Territorium
schauen und sich fragen: „Bin ich mir sicher, dass die nicht doch
zusammenstehen?“ Die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung beruht auf den
sogenannten drei Cs: Capabilities, Communication, Credibility. Habe ich
die Fähigkeiten? Bin ich glaubwürdig entschlossen, die Bombe auch einzusetzen? Bei
der Kommunikation müssen wir schauen, ob die Abschreckung glaubwürdig vermittelt
wird. Natürlich hakt es, wenn der US-Präsident Zweifel äußert, ob er die
Europäer verteidigt.

ZEIT:
Sehen
Sie?

Major:
Ja, aber der dritte Punkt ist auch wichtig: die
Entschlossenheit. Man muss etwas sehr Absurdes, Gefährliches machen, damit
Abschreckung funktioniert. Man muss dem Gegenüber vermitteln, dass man bereit
wäre, eine Bombe einzusetzen, die die Menschheit vernichten könnte. Man muss
das glaubhaft androhen, obwohl man tief drinnen diese Bombe nicht einsetzen
möchte. Diese Glaubwürdigkeit kann man beispielsweise über Übungen herstellen,
indem man zeigt: Die Flugzeuge können aufsteigen, die U-Boote sind unterwegs,
unsere Entscheidungsprozesse funktionieren. Und es ist ja nicht nur ein
Flugzeug, das eine solche Atombombe tragen würde, sondern dahinter steht ein riesengroßes
System, das sich dann in Bewegung setzen würde. Das heißt, die Aufgabe der Nato-Staaten
ist es, immer wieder zu vermitteln: Wir meinen das wirklich ernst. Und wir
können es.  

ZEIT:
Vor
zwanzig Jahren schien das noch undenkbar, aber mittlerweile steht die Frage im
Raum, wie verlässlich die Nato-Partner noch sind. Warum?

Major:
Einer der Gründe, weswegen wir gerade über
europäische Atomwaffen sprechen, ist der russische Krieg und die steigende
Bedeutung von Atomwaffen. Die Ukrainer haben die auf ihrem Territorium
befindlichen sowjetischen Atomwaffen in den Neunzigerjahren abgegeben …

ZEIT:

im Zuge des sogenannten Budapester Memorandums.

Major:
Im Gegenzug haben sie Sicherheitszusagen
verlangt, unter anderem auch von Russland. Man hat ihnen territoriale
Integrität und Souveränität zugesagt.