Debatte um Wehrpflicht: Peinlich und verantwortungslos

In Großbritannien beginnt in diesen Wochen wieder die „poppy season“. Nicht nur Politikerinnen und Politiker, sondern auch viele Bürger, alt wie jung, heften sich in jedem Herbst kleine Mohnblüten-Pins an Revers oder Jacken. Die Poppys dienen dem Gedenken an alle, die in Kriegen starben – unter anderem an die unzähligen Wehrpflichtigen, die im Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen. In diesem Jahr gehen die Gedanken vieler Briten zurück an die Piloten der Royal Air Force, die vor 85 Jahren eine drohende Invasion durch Hitlerdeutschland abwehrten.

Es waren oft junge Männer um die 20, die im „Battle of Britain“ 1940 zu mehreren Luftkämpfen pro Tag aufsteigen mussten. Ihre durchschnittliche Überlebenszeit betrug vier Wochen. Hunderten von ihnen wurde es zum Verhängnis, dass Hitlers Luftwaffe der britischen um ein Vielfaches überlegen war. Bis kurz vor Kriegsausbruch 1939 hatte die Regierung in London geglaubt, den Naziimperialismus appeasen zu können und nicht schnell genug aufgerüstet. Hitler fühlte sich zum Angriff ermutigt. „Niemals zuvor in einem menschlichen Konflikt hatten so viele so wenigen so viel zu verdanken“, sagte Winston Churchill später über die – glücklicherweise letztlich siegreichen – Piloten.

Die Debatte um die Wehrpflicht, die sich Deutschland im Jahr 2025 leistet, wirft eher die Frage auf, wann zuletzt so viele ein so ernstes Thema mit so wenig Ernsthaftigkeit und so wenig Mut angegangen sind. Die Idee, Wehrpflichtige per Los zu rekrutieren, ist hoffentlich vom Tisch, auch wenn der SPD-Fraktionschef Matthias Miersch nun noch einmal in der ZEIT dafür geworben hat. Tatsächlich markiert dieser Lotterievorschlag einen Tiefpunkt im Selbstbewusstsein deutscher Parlamentarier. Weite Teile der regierenden Mehrheit sind offenbar bereit, über tiefgreifende Eingriffe in das Leben junger Deutscher lieber Würfel entscheiden zu lassen, statt als gewählte Repräsentanten für diese Entscheidung geradezustehen. Möchte die Regierung im Kriegsfall vielleicht auch auslosen, welche Städte verteidigt werden und welche nicht?

Warum fällt es ausgerechnet der SPD so schwer?

Politische Führung bedeutet, eine Mehrheit von der eigenen Überzeugung zu überzeugen. Idealerweise tut man das durch Argumente, deren Gewicht dem Lärm vorhersehbarer Empörung in der Bevölkerung standhält. Aber leider ist es wie so oft in bundesrepublikanischen Diskussionen. Die Angst vor dem Lärm ist mächtiger als der Glaube an die Überzeugungskraft. Beim Thema Wehrpflicht hat diese Verkniffenheit bestimmt auch damit zu tun, dass die Empörungsmaschinerie Social Media vor allem von jüngeren Menschen bevölkert wird. Das ist allerdings keine Entschuldigung für die mittlerweile nicht nur peinliche, sondern unverantwortliche Unentschiedenheit, die die Bundesregierung aufführt.

Ja, die Wehrpflicht ist nach der Gefängnisstrafe der schwerste Grundrechtseingriff, den der deutsche Staat zu bieten hat. Aber wenn sie während des Kalten Krieges gerechtfertigt war, dann ist sie es heute erst recht. Wir schreiben demnächst das vierte Jahr des Überfalls Russlands auf die Ukraine. Des zweiten, wohlgemerkt. Der erste Überfall fand bereits im Jahr 2014 statt. Als ob ein entfesselter russischer Neoimperialismus nicht ausreichen würde, um eine Wehrpflicht zu begründen, ist seither noch eine US-Regierung hinzugekommen, die Europa regelrecht anbrüllt, gefälligst selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Und: Der Versuch, der Bundeswehr durch Attraktivitätssteigerung den notwendigen Nachwuchs zuzuführen, muss leider als gescheitert betrachtet werden.

Warum eigentlich fällt es ausgerechnet der SPD so schwer, für den Armeedienst zu werben – der Partei immerhin, deren Hauptüberzeugung darin besteht, dass in einem gerechten Gemeinwesen die Stärkeren Solidarität mit den Schwächeren aufbringen müssen? Die Wehrpflicht ist schließlich so etwas wie eine militärische Sozialversicherung. Man hat sie in der Hoffnung, sie nie zu brauchen, und je mehr Menschen mitmachen, desto größer ist die Absicherung für alle. Wer sagt, dass er nicht für Deutschland sterben will, äußert lediglich eine platte Selbstverständlichkeit, ohne den zweiten Gedankenschritt zu machen: Gerade wer nicht kämpfen will, sollte sich in der Pflicht fühlen, die Abschreckung gegenüber jedem potenziellen Angreifer zu maximieren.

Vor allem als Linker könnte man sogar noch deutlicher werden: Die Erwartung, Freiheit durch die Opferbereitschaft anderer garantieren zu lassen, ist nicht nur unsolidarisch. Sie ist auch unmoralisch, denn sie leugnet die Verantwortung für die Solidargemeinschaft zugunsten des eigenen Vorteils. In anderen Kontexten würde die SPD ein solches Verhalten als neoliberal und egoistisch schelten. Sie sollte es auch dort tun, wo es um die Grundbedingung aller Politik geht: um die Souveränität der Demokratie – und darum, dass nie wieder Mohnblumen aus Soldatengräbern wachsen.