Kafka war Jude! Wie ich am Berliner Ensemble plötzlich den „Prozess“ verstand

Die rätselhafte Undurchdringlichkeit der Moderne, darum geht es in Kafkas „Prozess“, oder? Am Berliner Ensemble nimmt Barrie Kosky den jüdischen Einfluss auf Kafka ernst


„Ich fühlte mich bewegt und verwundet, wie es eben manchmal passiert, wenn man im Theater plötzlich etwas versteht“

Foto: Jörg Brüggemann


„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ So will es einer der berühmtesten Sätze der Literaturgeschichte. Der Prozess von Franz Kafka wird meistens als Parabel auf die rätselhafte Undurchdringlichkeit des Justizapparates gedeutet, als Beschreibung einer willkürlichen Bürokratie, die mit einem Netz von undurchdringlichen Schuldzuweisungen das Individuum zwischen ihren Aktendeckeln zermalmt.

Das gilt auch für Umsetzungen auf der Bühne. Ich erinnere mich dunkel an so einige Inszenierungen, in denen der Bankangestellte Josef K. im Bankangestelltenoutfit, oder was man sich darunter vorstellt, zwischen Türmen von Aktenordnern umherirrt, die besagten labyrinthischen Justizapparat symbolisieren sollen, eben ganz „kafkaesk“.

Am Berliner Ensemble ist diese albtraumhafte Geschichte von einem Mann, über den ohne Grund und aus heiterem Himmel ein Todesurteil gesprochen wird, nun als K. Ein talmudisches Tingeltangel rund um Kafkas Prozess zu sehen, inszeniert von Barrie Kosky, der damit die Altberliner Tradition eines Varieté-Abends mit Gesang und Tanz heraufbeschwört. (Immerhin brauchte man vor einhundert Theaterjahren für diese schlüpfrige Kleinkunst noch eine polizeiliche Erlaubnis!)

Aber warum talmudisch? Weil Kosky in seinem Kafka-Kommentar etwas Seltenes unternimmt, nämlich, die Tatsache ernst zu nehmen, dass Kafka Jude war. So ist die Inszenierung als eine Feier des Varietés angelegt, aber auch an die Tradition des jiddischen Theaters aus Osteuropa, das Kafka so faszinierte; mit revueartigen Tanznummern, ausgestellter clownesker Spielweise und jiddischen Liedern. In einem heißt es: „Auf dem Spielen fußt die ganze Welt.“

Josef K. ist bei Barrie Kosky eindeutig Opfer eines jüdischen Schauprozesses

Doch in der jüdischen Welt, die sich auf der Bühne entfaltet, mit der Synagoge und ihren goldenen Kronleuchtern, dem Toraschrein und den Torarollen hinter der Parochet, kommt man gar nicht umhin, dieses sinnlose Beschuldigtwerden von Josef K. als jüdische Erfahrung zu deuten.

In der Geschichte des Antisemitismus spielt die Verfolgung von Juden mithilfe von inszenierten Schauprozessen auf der Basis von frei erfundenen Vorwürfen und Anklagen eine bedeutende Rolle (wie in den Fällen von Joseph (!) Süß Oppenheimer, Alfred Dreyfus und vielen weiteren).

Hier nun wird auch Josef K. ganz deutlich Opfer eines antisemitischen Schauprozesses, seine Geschichte zum schmerzhaften „Spektakel von jemandem, der seine Unschuld verteidigt“: Wenn K.s Onkel verzweifelt, dass den Prozess zu verlieren bedeute, „als Mensch ausgestrichen, ausgelöscht zu werden“. Wenn die unbeschreibliche Constanze Becker als Pensionswirtin von K. Ungeziefergift aus Gründen der „Reinheit“ versprüht. Wenn sie später – als eiskalte germanische Blondine – den Apparat bedient, der K. mit unzähligen Nadeln das unverständliche Urteil auf den Körper tätowiert, „immer tiefer in den Körper einschreibt“, oder wenn K., von Kathrin Wehlisch absolut herzergreifend gespielt, ruft: „Wie kann denn einer schuldig sein, wir sind doch hier alle Menschen unter Menschen?“ und „Hast du auch ein Vorurteil gegen mich?“

Lange hat mich im Theater nichts mehr so erschüttert, wie am Berliner Ensemble K. zuzusehen. Die Figur wird auch immer wieder in eins mit Kafka gelegt, dessen letzte Liebesgeschichte mit Dora Diamant in Liedern und projizierten Tagebuchtexten erzählt wird: „Ich bin nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks.“ Ich fühlte mich bewegt und verwundet, wie es eben manchmal passiert, wenn man im Theater plötzlich etwas versteht.

Gehen’se also hin, gehen’se hin zu diesem talmudischen Tingeltangel mit fantastischem Ensemble und Musik. Es ist irre traurig und irre schön.

Theatertagebuch

Eva Marburg studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Berlin und New York. Nach Arbeiten als freie Dramaturgin und Autorin am Theater, studierte sie Kulturjournalismus an der UdK in Berlin und ist seit 2018 Fachredakteurin für Theater bei SWR2. Für den Freitag schreibt sie regelmäßig das Theatertagebuch.