Brief aus Istanbul: Erdoğan und sein Schweizer Taschenmesser
Von dem antiken Mathematiker und Physiker Archimedes stammt der Spruch: „Gebt mir einen festen Punkt im All, und ich hebe die Welt aus den Angeln.“ So sehr vertraute er seinem Hebelgesetz. Nicht von ungefähr, denn jeder seinem Prinzip gemäß angesetzte Hebel wäre in der Lage, jedes beliebige Objekt zu heben beziehungsweise auszuhebeln. 2300 Jahre nach Archimedes tritt der türkische Präsident Erdoğan auf die Bühne der Politik und hebelt mithilfe eines anderen Apparats alle aus, die ihm nicht genehm sind. Er hebelt sie nicht bloß aus, sondern schafft sie komplett aus dem Weg. Die Justiz ist der Apparat, den Erdoğan benutzt, um das Schloss einer jeden Tür zu knacken. Er hat die Unabhängigkeit der Justiz abgeschafft und strebt nun mit ihrer Hilfe danach, alle auf Linie zu bringen, die er als Hindernis auf seinem Weg betrachtet, ob rivalisierende Politiker, Künstler, Unternehmer oder Normalbürger. Auf diese Weise will er sich eine Regierungszeit ohne Ende sichern.
Im Dezember 2022 ergriff Erdoğan die vielleicht schärfste Maßnahme im Zuge seines Bestrebens, die Politik mithilfe von Gerichtsurteilen zu gestalten und starke Gegner auszubooten. Er benutzte ein Beleidigungsverfahren, um seinen Hauptrivalen Ekrem İmamoğlu mit Politikverbot belegen zu lassen. Infolgedessen konnte İmamoğlu bei den Wahlen im Mai 2023 nicht kandidieren, und Erdoğan gelang es, den farblosen Ersatzkandidaten der Opposition um Nasenlänge zu schlagen. Der Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu aber gab nach diesem Rückschlag nicht klein bei, sondern stellte seine Partei neu auf. Woraufhin die Palastjustiz sich zu einem noch radikaleren Schritt als dem Politikverbot aufschwang. Im März dieses Jahres wurde İmamoğlu wegen Korruptionsverdachts verhaftet.

Auch das konnte den Aufstieg der Opposition nicht verhindern. Im Gegenteil, es gelang der oppositionellen CHP vielmehr, ihre psychologische und moralische Überlegenheit zu konsolidieren. Bei den Kommunalwahlen im März 2024 überholte die CHP Erdoğans AKP und baute seither ihren Vorsprung weiter aus. Das missfällt Erdoğan sehr, hinzu kommt ein weiterer für ihn ärgerlicher Punkt: der Aufstieg des Bürgermeisters von Ankara, Mansur Yavaş, der nach der Ausschaltung İmamoğlus als alternativer Kandidat der Opposition betrachtet wird. Wieder trat die Palastjustiz auf den Plan und ging nun gegen die Stadtverwaltung von Ankara vor, um Mansur Yavaş das Wasser abzugraben. Dreizehn Kommunalbeamte wurden festgenommen, vorgeworfen wird ihnen Korruption bei der Organisation von Konzerten. Yavaş selbst kam zwar nicht in Gewahrsam, allerdings wurden Ermittlungen gegen ihn eingeleitet, was als Warnschuss gelten darf. Die Botschaft des Palasts an Mansur Yavaş lautet: Komm nicht auf die Idee, kandidieren zu wollen, sonst ergeht es dir wie İmamoğlu.
Er wurde verhaftet, weil er lachte
Erdoğan setzt die multifunktionale Justiz wie ein Schweizer Taschenmesser ein, auch in anderen Bereichen fällt sie gnadenlose Urteile. So darf sie aufgrund eines vor acht Monaten erlassenen Gesetzes Vermögen in Millionenhöhe von Unternehmern beschlagnahmen, die der Regierung unliebsam sind. Dazu braucht es nicht einmal eine Straftat, die Staatsanwaltschaft muss lediglich den Verdacht auf eine Straftat hegen. Und wohin werden die konfiszierten Gelder und Unternehmen dann transferiert? Natürlich an einen vom Palast verwalteten öffentlichen Fonds. Im September stieg die Zahl der von diesem Fonds verwalteten Unternehmen um beinahe 60 Prozent auf über 1100. So groß sind nicht einmal die alteingesessenen türkischen Holdings. Als Inhaber der auf diese Weise größten Holding des Landes hat der Palast gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Er hat die Geschäftswelt auf Linie gebracht, sich zudem ein Budget geschaffen, aus dem er unkontrolliert Ausgaben tätigen kann, und darüber für ein riesiges Beschäftigungsreservoir gesorgt, in dem die Regierung ihre Anhänger unterbringen kann.
Ein weiteres Ziel der Machtpolitik via Justizapparat ist der Bereich Kunst und Kultur. Hier geht es der Regierung nicht bloß darum, oppositionelle Stimmen zum Schweigen zu bringen, sie versucht zugleich, ihre eigenen repressiven religiösen und moralischen Werte zur Normalität zu machen. Der Moderator einer populären Comedyshow auf Youtube wurde verhaftet, weil er sich einen Scherz mit einem Zitat des Propheten Mohammed erlaubt hatte. Wobei der Scherz weder beleidigend noch erniedrigend war. Die Verhaftung einer Person wegen eines Scherzes ist noch nicht alles. Sie werden kaum glauben können, was weiter geschah: Ebenfalls verhaftet wurde der Gast der Show, der über den Scherz lediglich lachte, ohne ein Wort dazu zu sagen. Beiden drohen Haftstrafen von viereinhalb Jahren.
Ein Anschlag auf die Reputation
Wenn Scherze und darüber zu lachen verboten sind, ist es doch wohl erlaubt zu tanzen, denken Sie? Nun, eine Kopftuch tragende Frau wurde verhaftet, weil sie in einem Nachtclub mit einem Transvestiten getanzt hatte. Die Begründung ist so gruselig wie die Verhaftung: Volksverhetzung! Der Haftbefehl entspringt nicht bloß einer Moralwächterei, er ist zugleich ein Warnsignal an konservative Frauen, die gern Teil des säkularen Lebens wären. In einem anderen Prozess geht es ebenfalls ums Tanzen: Gegen alle Mitglieder der Girlgroup „Manifest“ wurde jetzt wegen ihres Tanzes beim Auftritt der Prozess eröffnet. Ihnen droht ein Jahr Haft wegen „Anstößigkeit“. Aus demselben Grund werden drei Jahre Haft für den Musiker Mabel Matiz gefordert. Unseren Staatsanwälten gefiel sein Songtext nicht.
Während sich die Türkei noch über diese Nachrichten wundert, eskortierte die Polizei kürzlich neunzehn Prominente aus Musik, Film und Fernsehen und sozialen Medien vor laufenden Kameras zur Drogenkontrolle ins Krankenhaus. Eine der betroffenen Schauspielerinnen war erst kurz zuvor niedergekommen. Beweise für Drogenkonsum gab es nicht, die Testergebnisse wurden nicht veröffentlicht. Nach diesem Anschlag auf ihre Reputation durften alle wieder nach Hause gehen. Welch ein Zufall, fast alle der kurzfristig Festgenommenen stehen distanziert zur Regierung und sind für ihre oppositionelle Haltung zu gesellschaftlichen Themen bekannt.
Der einzige Weg zum Machterhalt
Wer sich dem Palastregime nicht beugt, bekommt die Knute der Justiz zu spüren. Selbst gewöhnliche Bürger finden sich beim geringsten Widerspruch im Gefängnis wieder. So wurde letzte Woche eine Mutter von zwei Kindern verhaftet, weil sie einen Post auf der Plattform X geteilt hatte. Und der Sechzehnjährige, der im Frühsommer wegen Präsidentenbeleidigung verhaftet worden war, sitzt, obwohl die Ferien vorüber sind, nicht in der Klasse, sondern in einer Gefängniszelle. Solch gnadenlose Verhaftungen erfolgen nicht von ungefähr, sie sollen Angst in der Bevölkerung verbreiten und verhindern, dass die Unzufriedenheit sich zu einem Aufstand auswächst. Leider verfängt diese Taktik tatsächlich. Der regelmäßig von der CHP publizierte Menschenrechtsreport weist aus, dass die Angst vor Verhaftung erstmals auf Platz drei der Sorgen geklettert ist, die die Menschen umtreiben. Darüber stehen nur noch Zukunftsängste und Sorge um die Zukunft der Kinder, worin sich die Hoffnungslosigkeit im Land widerspiegelt.
Doch warum das alles? Damit Erdoğan „unbefristeten Aufenthalt“ im Präsidentenpalast erhält. Denn weder die politische noch die wirtschaftliche Situation sehen derzeit danach aus, ihm sein politisches Leben verlängern zu können. Darum versucht Erdoğan, das Land anhand der instrumentalisierten Justiz umzukrempeln und die Bevölkerung einzuschüchtern, um seine Macht absolut zu setzen. Dieses Bestreben brachte der Türkei-Berichterstatter im EU-Parlament, Nacho Sánchez Amor, kürzlich recht treffend auf den Punkt: „In der Türkei scheinen Staatsanwälte derzeit weniger durch das Strafgesetzbuch als vielmehr durch Wahlumfragen angetrieben zu sein.“ Sánchez Amor kann diese Feststellung treffen, weil er nicht in der Türkei Abgeordneter ist. Sonst würde er sich wie etliche unserer vom Volk gewählten Vertreter im Gefängnis wiederfinden.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
Source: faz.net