Bürgergeld: Sind die Sanktionen z. Hd. Terminverweigerer verfassungskonform?
Die Koalition hat sich auf eine neue Grundsicherung geeinigt, das Bürgergeld soll abgeschafft werden. Arbeitslose, die wiederholt Termine versäumen oder sich der Jobvermittlung total verweigern, sollen stärker sanktioniert werden können als bislang. Im Interview mit der ZEIT erklärt die Juristin Andrea Kießling, ob die geplante Reform mit der Verfassung vereinbar wäre.
DIE ZEIT: Frau Kießling, was ist Ihre Einschätzung: Hätte diese Einigung vor dem Verfassungsgericht Bestand?
Andrea Kießling: Das kommt auf den konkreten Gesetzeswortlaut an und auf die
Begründung der jeweiligen Kürzung. Es gibt ja ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2019, das sich schon mal mit Sanktionen
bei der Grundsicherung beschäftigt hat. Das Gericht hat damals Sanktionen in
Höhe von 30 Prozent des Regelbedarfs für verfassungsgemäß erklärt, Sanktionen darüber
hinaus für verfassungswidrig. Aber grundsätzlich gilt: Auch eine vollständige
Kürzung ist nicht notwendigerweise verfassungswidrig, solange auch sie darauf
abzielt, die Betroffenen auch tatsächlich wieder in Arbeit zu bekommen.
ZEIT: Wie lässt sich nachweisen, dass solche Kürzungen wirken?
Kießling: Es müssen Studien vorliegen, die belegen, dass eine Sanktion
dazu beiträgt, die Betroffenen wieder in Arbeit zu bringen. 2019 gab es nicht
genügend Studien, die belegt hätten, dass Leistungskürzungen von mehr als 30
Prozent geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen. In der Gesetzesbegründung
müssten wir nun einen Hinweis auf solche Studien finden.
ZEIT: Was genau sind das für Studien?
Kießling: Das sind sozialwissenschaftliche Studien, die die
Auswirkungen von Sanktionen auf die Betroffenen untersuchen. Schon für
Kürzungen von 30 Prozent war die Studienlage 2019 nicht wirklich befriedigend,
aber für das Bundesverfassungsgericht am Ende ausreichend – einfach weil die
Sanktion weniger einschneidend ist.
ZEIT: Müssten Studien nicht idealerweise schon vorliegen, bevor man das Gesetz verabschiedet?
Kießling: Ja, gerade mit Blick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019. Welche
sozialwissenschaftlichen Studien von der Bundesregierung in Auftrag gegeben und
ob sie bereits durchgeführt wurden, ist mir allerdings nicht bekannt. Aber mal
abgesehen von den Studien: Das Urteil 2019 hat übrigens auch an mehreren
Stellen explizit auf das Risiko der Wohnungslosigkeit durch harte Sanktionen hingewiesen:
Wohnungslosigkeit habe kontraproduktive Effekte, wenn es darum geht, Menschen wieder
in Arbeit zu bringen.
ZEIT: Genau dieses Risiko nimmt die Regierung von Friedrich
Merz aber nun in Kauf. Wer zum dritten geplanten Termin nicht erscheint, dem
sollen alle Geldleistungen gestrichen werden, die Miete wird dann direkt vom
Staat bezahlt. Bei einem nochmaligen Terminversäumnis werden dann auch die Leistungen
für die Unterkunft gestrichen – was im Zweifel bedeutet, dass die Menschen
obdachlos werden. Wäre das aus Ihrer Sicht von der Verfassung gedeckt?
Kießling: Im 2019er-Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt es dazu
zwei Aussagen: Erstens soll Wohnungslosigkeit – aus den geschilderten Gründen –
unbedingt vermieden werden. Aus einer anderen Passage des Urteils geht dann
aber hervor, dass der Staat einen Leistungsempfänger, der ein konkretes Angebot
zumutbarer Arbeit ablehnt, durchaus so behandeln darf, als wäre er gar nicht
bedürftig – und ihm deswegen auch alle Leistungen streichen kann. Unklar ist,
ob das auch für die Kosten für die Unterkunft gilt. Die Rechtswissenschaft
streitet tatsächlich darüber, wie diese Passage im Urteil zu verstehen ist. Wichtig
zu wissen ist: Diese Anmerkung bezieht sich nicht auf bloße Terminversäumnisse,
sondern auf die sogenannten Totalverweigerer.
ZEIT: Mit dem neuen Gesetz sollen Menschen nicht
erst sanktioniert werden, wenn sie ein Arbeitsangebot ablehnen, sondern schon,
wenn sie Termine versäumen. Macht das aus juristischer Perspektive einen Unterschied?
Kießling: Das ist auf jeden Fall ein Unterschied. Wenn eine Person
einen Job ausschlägt, mit dem sie ihren kompletten Lebensunterhalt bestreiten
könnte, entscheidet sie sich dagegen, ihre Bedürftigkeit unmittelbar zu
überwinden. Wenn jemand nur einen Termin beim Jobcenter versäumt, hätte sie
sich damit nicht direkt gegen einen Job entschieden. Zwar dienen auch diese
Termine der Überwindung der Bedürftigkeit, aber indirekter als konkrete
Jobangebote.
ZEIT: Kanzler Merz betonte bei der Vorstellung der
Pläne für die Grundsicherung immer wieder: Wer staatliche Leistung beanspruche,
müsse mithelfen, möglichst bald aus dem Anspruch auch wieder herauszukommen. So
ist es im Sozialgesetzbuch geregelt. Lassen sich die Sanktionen mit der
unterlassenen Mitwirkungspflicht begründen?
Kießling: Ja, aber das reicht nicht aus. Grundsätzlich gilt bei
Leistungen für die Existenzsicherung der Nachranggrundsatz. Das bedeutet: Der
Staat muss erst einspringen, wenn ein Bürger oder eine Bürgerin sich selbst
nicht mehr helfen kann und es auch keine unterhaltspflichtigen Personen oder Partnerinnen
und Partner gibt, die Unterstützung leisten könnten. Das ganze Konzept der
Mitwirkungspflichten ist an dem Ziel ausgerichtet, die eigene Bedürftigkeit zu
überwinden – dasselbe gilt für die Sanktionen, die wiederum an die Verletzung
dieser Mitwirkungspflichten anknüpfen. Aber diese Sanktionen müssen eben auch
wirksam und erforderlich sein.
ZEIT: Abgesehen von den Studien, die die Wirksamkeit von
Sanktionen nachweisen müssten: Würde durch eine vollständige Kürzung sämtlicher
Sozialleistungen nicht das grundlegende Prinzip des deutschen Sozialstaats
verletzt, der dafür sorgen will, dass niemand hungern oder auf der Straße leben
muss?
Kießling: Das berührt die grundlegende Frage, wie wir unseren
Sozialstaat und das in der Verfassung verankerte Sozialstaatsprinzip verstehen
und wo wir das Minimum sozialer Sicherung sehen. Wir haben einen verfassungsrechtlichen
Anspruch darauf, dass uns ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet
wird. Das Bundesverfassungsgericht sagt aber eben auch, dass Sanktionen, die zur Unterschreitung
dieses Existenzminimums führen, unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sein
können. Wie man diese Voraussetzungen dann im Gesetz formuliert und wann der
Staat wirklich Obdachlosigkeit in Kauf nehmen darf, das ist die große Frage.