Janina Lütt | Liebe arbeitende Mitte, welches du fühlst, ist die Angst vor dem Abstieg

Ich spüre Angst und Wut in diesem Herbst der Reformen. Wieder trifft es die Schwächsten – und immer mehr auch die Mitte. Aber wir müssen dieser Entwicklung nicht hilflos begegnen


Die Bürgergelddebatte ist geprägt von Wut und Spaltung

Foto: gettyimages/STOCK4B-RF


Ich habe Angst vor diesem sogenannten Herbst der Reformen, große Angst. Diese krampfhafte Fixierung, bei marginalisierten Gruppen sparen zu wollen, bei Bürgergeldempfänger/innen, Migrant/innen, Rentner/innen und jetzt auch noch Menschen mit Pflegestufe, verstört und verunsichert mich.

Ich spüre eine vertraute Ohnmacht und Wut, die armutsbetroffenen Menschen immer ein treuer Begleiter ist. Ich spüre sie jetzt auch anderswo. Die so-genannte arbeitende Mitte merkt, dass vieles, was sie für selbstverständlich hielt, nun hinterfragt werden muss: das Aufstiegsversprechen durch Fleiß, der Trickle-down-Effekt (von viel Reichtum oben kommt bestimmt unten mal was an) und der Umgang der Regierenden mit ihnen.

Nicht alle lassen sich gegen Ärmere ausspielen und politisch instrumentalisieren. Meine Hoffnung liegt darin, dass die Mitte nicht mehr ohnmächtig erträgt, sondern sich politisiert. Arme haben oft nicht die Kraft oder das Geld, zu kämpfen. Ich frage mich: Wann entdeckt die Mittelschicht ihre Möglichkeiten und ihre Macht?

Die Bürgergelddebatte ist geprägt von Wut. Oder? Fehlinformationen werden ungeprüft in die Öffentlichkeit getragen, so entsteht der Eindruck, als sei viel Geld einzusparen, wenn nur mehr Druck ausgeübt wird. Als gäbe es noch etwas zu holen bei uns. Und so beginne ich zu verstehen: Es geht nicht um Sozialneid nach unten. Es ist keine Neiddebatte. Sondern eine Abstiegsangstdebatte.

Es geht um Existenzangst, für Arme erschreckender Alltag, die nun in der unteren Mittelschicht ankommt: Ich kann mir immer weniger leisten! Ich habe Angst, meine Miete nicht mehr zahlen zu können! Die Lebensmittel sind erschreckend teuer geworden.

Angst und Wut sind keine guten Ratgeber

Wer jetzt meint, Arme wären nicht solidarisch, der irrt. Die meisten Armutsbetroffenen verstehen die Ängste der Mitte besser als mancher Politiker.

Ich empfinde es als ungerecht, dass die Arbeitenden so hohe Abgaben haben, aber Superreiche nicht stärker belangt werden. Ihnen würde es weniger wehtun als Menschen, die nicht im Wohlstand leben. Es wäre nur fair, wenn alle einen Beitrag zu unserer Gesellschaft leisten. Ich bin solidarisch mit der arbeitenden Mitte und würde jederzeit mit ihr für Steuererleichterungen auf die Straße gehen.

Wir brauchen ein positives Signal, das uns allen hilft: etwa weniger oder keine Mehrwertsteuer auf Lebensmittel. Ein günstiges Deutschlandticket, das sich jeder leisten kann. Mehr Geld für Jugendsozialarbeit und sozialen Wohnungsbau, eine Bürgerversicherung. Ich höre immer nur: Bürgergeld. Diese Maßnahmen würden helfen, langfristig etwas zu verändern. Wieso sprechen wir nicht darüber?

Wenn unsere Regierung die Menschen unterhalb einer gewissen Einkommensgrenze ignoriert, dann fördert das nicht nur Politikverdrossenheit, sondern auch Radikalisierung. Angst und in Hass umgeschlagene Wut sind keine guten Ratgeber. Es sind nicht nur Armutsbetroffene, die gesehen werden wollen, sondern auch Mitbürger/innen, die weniger verdienen als Spitzenpolitiker!

Wenn wir uns solidarisieren und uns nicht mehr alles gefallen lassen, können wir Druck ausüben. Ich suche verzweifelt nach Demonstrationen gegen Sozialkürzungen, aber wo sind sie? Wir müssen diesem Herbst nicht hilflos begegnen. Resignation ist keine Lösung.

Die Zukunft unserer Gesellschaft geht uns alle an!

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet das Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau.