Michail Prischwins Tagebücher: Das Kaukasuswasser singt wie ein Bienenschwarm
Nikolai Bucharin, einst „Liebling der Partei“ (Lenin), genoss bis zu seiner Kaltstellung und Erschießung 1937/38 als Herausgeber der Tageszeitung „Iswestija“ eine Art Schonfrist, die sich im Rückblick als Segen für viele nurmehr geduldete, permanent am Rand ihrer Verhaftung stehende Autoren wie Ossip Mandelstam erwies, welchem er etwa seine Armenienreise 1930 ermöglicht hatte.
Anfang 1936 trat Bucharin an Michail Prischwin mit der Offerte heran, für das Staatsmedium über die gerade mit dem Leninorden prämierte autonome kaukasische Sowjetrepublik Kabardino-Balkarien zu schreiben. Alles würde selbstredend für ihn organisiert werden – Unterkunft, Verpflegung, Ausflüge, Zusammensein mit dem Führer der Bergnation.
Anpassung oder Exil?
Prischwin war keineswegs ein Verfemter wie Mandelstam, aber auch keiner jener stalintreuen Literaturfunktionäre wie Alexej Tolstoi, die nach dem Tod Maxim Gorkis die Totalisierung der Sowjetliteratur vollstreckten. Prischwin, Jahrgang 1873, hatte sich nach jugendlicher Marx- und Bebel-Schwärmerei, die ihn in Haft und dann zum Studium nach Jena und Leipzig brachte, vor der Revolution zum apolitischen Natur- und Jagdschriftsteller entwickelt, dem es mit den Umwälzungen der Jahre 1917/20, wie der erste bei Guggolz veröffentlichte Tagebuchband und der Nachlassroman „Der irdische Kelch“ zeigen, schwerfiel, seinen Ort in der Diktatur des Proletariats zu finden.
Die Frage, sich zwischen Anpassung oder Exil zu entscheiden, stellte sich ihm so nicht – der Riss ging tiefer, denn er empfand, dass er Zeuge eines Epochenwandels war, für den selbst die Revolution nur ein Indiz bildete. Vordergründig gelang es Prischwin, sich im Lauf der Zwanziger- und Dreißigerjahre unter der neuen Macht als eine Art sowjetischer Nature Writer zu etablieren, der freilich auch die unerhörte technische Gewalt, mit welcher man ganze Landschaften zu erschließen begann, bejahend zur Sprache bringen musste.

Um gedruckt zu werden, hatte er letztlich die Brachialumgestaltung von Stalins roter Erdoberfläche zu billigen. Prischwin macht es sich nicht leicht, ging etwa mit seinem Buch „Shen-Schen“, das 1936 auch auf Englisch und Deutsch erschien, ins Parabolische der erfolgreichen Domestizierung der Natur am Beispiel der Zähmung des mandschurischen Hirschs durch einen (wie Prischwin selbst) früh in der Liebe gescheiterten Ingenieur – fast eine Art utopisches Gegenstück zu Hemingways „Der alte Mann und das Meer“, da bei ihm der Mensch mit der Natur versöhnt wird.
In der Wirklichkeit konnte davon keine Rede sein. Seine Tagebücher der Dreißigerjahre – die Auswahl 1930/32 erschien bereits 2022, wie vorliegende souverän begleitet mit Kommentaren der Übersetzerin Eveline Passet – sind ein Seismogramm der Erschütterungen, die Stalins neuer Mensch in Natur und Gesellschaft anrichtete.
Wären die Tagebücher zu seinen Lebzeiten publik geworden, so hätten ihrem Autor Verbannung oder Tod gedroht. Nicht einmal seine eigene Familie wusste bis kurz vor seinem Tod 1954 von der Existenz dieser allmorgendlich geführten Kladden. Vollständig publiziert lagen sie erst 2017 vor und können nun im russischen Original auch online abgerufen werden (https://elsu.ru/prishvin.html). So erfahren wir, dass der Kinderbuchfunktionär Samuil Marschak Prischwins Kinderbücher – eine wichtige Einnahmequelle im sowjetischen Verlagssystem – kritisiert hatte, wogegen der sich im Januar 1936 im Moskauer Schriftstellerverband zur Wehr setzte. Danach plagen ihn Zweifel: War es richtig, Marschak angegriffen zu haben?
Kurorte, aus dem Boden gestampft
Bucharins Einladung nach Kabardino-Balkarien kam da recht, konnte er dort nicht nur vom möglicherweise folgenschweren Autorenzwist abgelenkt werden, sondern vielleicht auch mit einer Reportage über die Musterregion der Kollektivierung dem „kleinen Stalin“ in Gestalt des dortigen Despoten Betal Kalmykow und den rasenden Umbrüchen seiner Gegenwart habhaft werden.
Das Tagebuch bezeugt, wie fasziniert und frustriert zugleich Prischwin von diesem Diktator gewesen sein muss: „Wie herrlich auch die Blumen auf den Bergweiden, die Gebirgsbäche, die blühenden Gärten sind – all dies wird dir nicht zuteil durch das Leben, sondern durch Betals Gnaden.“ Kalmykow lässt ihn bis zum Elbrus hinaufchauffieren, stellt ihm sogar einen Wagen, mit dem er sich selbst ein Bild von den gigantischen Projekten macht, wo man etwa Kurorte am Fuß von Hirtenweilern aus dem Boden stampft, mit gigantischen Kolchosen die traditionelle Weidewirtschaft zerstört, und ihm ist bewusst, dass er nie allein unterwegs sein kann: „Bei uns hockt der Schriftsteller in einem zugekorkten Einweckglas und ist rundum einsehbar.“
Mit Beginn der Schauprozesse und heimgekehrt nach Sergijew Possad bei Moskau versucht er die Regeln für seine Existenz zu überdenken – wie hat er sich jetzt zu verhalten, um zu überleben und seine künstlerische Integrität zu wahren? „Das ist das wirkliche Ende, und etwas Gutes beginnen lässt sich nur ohne Erinnerung an die Vergangenheit. Etwas ganz anderes beginnen, sich ganz anderen zuwenden . . .“ Überlegungen, die sich so ähnlich vor dem Hintergrund des nationalsozialistischem Terrors auch in Ernst Jüngers Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg finden, zumal Jünger und Prischwin stets ein ambivalentes Verhältnis zur Macht hatten, von dieser nicht nur geduldet, sondern bisweilen hofiert wurden, ihrerseits jedoch Abstand wahren wollten, um die Zeichen der Zeit zu erkennen.
Es fällt leicht, in der Verzweiflung unserer Gegenwart immer wieder auf Prischwin als Zeitgenossen zu treffen, als hätte er seine Aufzeichnungen für die Zukunft geschrieben: „Die Weltkatastrophe wächst unausweichlich wie ein Krebs und saugt alle Säfte des Organismus auf. Wir magern ab. Schreiben kann man nur mit diesem Krebs vor Augen . . . Wo wird die Geschichte gemacht und wer macht sie?“
Bucharin hat Prischwins große Erzählung über die Sowjetisierung der Kabarda nie erhalten – in der Offenheit und Vielstimmigkeit des Tagebuchs lassen sich nun schillernd wie in einem Kaleidoskop Prischwins Anläufe dazu, seine Reflexionen, Monologe, Rollenreden, Briefentwürfe, Lektürezitate des kaukasischen Jahres verfolgen. Viele der darin Erwähnten, ob Funktionäre oder Künstler, überlebten die Hinrichtungswelle jener Jahre nicht, die von ihm bestaunte Natur, wenn auch beschädigt, blieb: „Unterwegs gab es einen Felsen von der Größe eines mehrstöckigen Hauses, mir war, als hätte ich von dort Bienengesumm gehört. Da begriff ich, im Innern dieses Felsens, durch ihn hindurchsickernd, sang wie Bienen – Wasser.“
Michail Prischwin: „Tagebücher“. Band III: 1936. Aus dem Russischen von Eveline Passet. Nachwort von Eveline Passet und Jutta Scherrer. Guggolz Verlag, Berlin 2025. 437 S., geb., 34,– €.
Source: faz.net