Internet in Afghanistan: Ein Land schaltet sich ab

Irshad ist in Kabul nicht zu erreichen, auch Fazelminallah nicht, obwohl wir doch für heute ein Telefonat vereinbart hat­ten. Asifa in Herat, die letzte Woche nach einem Unfall aus dem Krankenhaus entlassen wurde, nimmt nicht ab, auch nicht Khailrullah in Mazar und Hamid in Jalabad. Seit drei Tagen versuche ich mit meinen Mitarbeitern und Freunden in Afghanistan zu reden. Seit drei Tagen sind nach Afghanistan alle Internet- und Telefonverbindungen gekappt.

Es ist weltweit ein in der Geschichte des Internets einmaliger Vorgang: Ein Land schaltet sich ab. Samt und sonders, ganz und gar. Am Montag, 29. September, Ortszeit 17 Uhr, fiel die große Dunkelheit über Afghanistan.

Gerüchte schwirrten in alle Richtungen. Offizielle Stellung­nahmen gab es lange nicht. Denn auch die Taliban waren nicht zu erreichen. Vor wenigen Stunden, Mittwochabend, haben die Taliban das Internet wieder angeknipst, zumindest in Kabul, Herat und Kandahar, zumindest vorläu­fig. Würden die Taliban den Blackout wiederholen und länger durchhal­ten, wären die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft unab­sehbar katastrophal.

Sämtliche internationale Flüge sind gestrichen. Die Maschi­nen, die es zuvor nach Kabul geschafft hatten, heben nicht mehr ab. Die Fluggesellschaften sind nicht in der Lage, mit den Zielflughäfen zu kommunizieren. Die Banken haben ihre Geschäfte ausge­setzt. Viele Firmen und Unternehmen haben geschlossen. Sie sind außerstande, Preise zu kalkulieren, weil unklar ist, wo am nächsten Tag der Wechselkurs des Dollars stehen wird. Die Ver­teilung von Hilfslieferungen muss pausieren. Selbst die UN-Vertretung in Kabul, die über Satellitenanschlüsse verfügt, kann nicht auf Datenbanken zugreifen, so schwach ist auch ihr Anschluss.

Starlink haben nur ganz wenige im Land. Wer das Gerät ein­führen will, braucht eine Genehmigung. Die ist schwer zu be­kommen. Zudem ist der Betrieb für afghanische Verhältnisse extrem teuer. Das Durchschnittseinkommen im Land liegt der Weltbank zufolge bei 40 Dollar.

Die Taliban wollen die Kontrolle über das Leben der Menschen

Es hatte sich schon länger angedeutet, dass neue radikale Maßnahmen bevorstehen. Die Taliban, die seit August 2021 erneut über das Land herrschen, versuchen das Leben des Einzelnen immer stärker zu kontrollieren. Frauen dürfen nicht mehr studieren, nach der sechsten Klasse nicht mehr zur Schule gehen. Sie dürfen Parks nicht mehr betreten, nicht mehr in der Öffentlichkeit laut reden, weil ihre Stimme die Begehrlichkeit von Männern wecken könnte. Vor wenigen Monaten haben die Taliban die Universitäten gezwungen, alle Bücher, von Frauen geschrieben, aus ihren Bibliotheken zu entfernen und sie zu vernichten. Unter Aufsicht, wie mir Do­zenten klagen, wurden sie angehalten, Bücher von Autorinnen in Mülltonnen zu entsorgen. Bücher über Chemie, Mathematik, Landwirtschaft, auch Romane, die nur eines gemein haben: von Frauen verfasst worden zu sein.

Das Internet war für viele Frauen die letzte Verbindung zur Außenwelt, womit nicht nur das Ausland gemeint ist, sondern viel mehr die ganze Welt außerhalb ihrer Hausmauern. Das Internet bot ihnen auch die letzte Möglichkeit, Bildung zu er­langen. Zehntausende Frauen nehmen an Onlinekursen teil.

Nie habe ich in Afghanistan so viele Überwachungskameras gesehen wie auf meiner letzten Reise vor drei Monaten. In den Städten haben sie systematisch die Nachbarschaften ge­zwungen, auf eigene Kosten Kameras auf den Außenwänden ihrer Häuser anzubringen. Straße für Straße, angeblich zur Verbrechensbekämpfung, tatsächlich aber auch zur sozialen Kontrolle. Nie war es auch für mich selbst so aufwendig, eine SIM-Karte zu erwerben. Einen halben Tag verbrachten wir dafür mit Bürokratie und Papierkram. Insgesamt wächst die Bürokratie der Taliban mit fast rasantem Tempo, aus dem gleichen Grund: dem Versuch, gesellschaftliche Kontrolle zu intensivieren. Afghanistan unter den Taliban mutiert zu einem großen sozialen Experiment, einer Erziehungsdiktatur.

Der Versuch, die vermeintliche Unmoral einzudämmen

Am 18. September begann der große Blackout mit einem klei­nen. Für einige Tage nahmen die Taliban die Provinz Balkh mit der Hauptstadt Mazar-il-Sharif vom Glasfasernetz. Der dortige Gouverneur soll ein enger Vertrauter des obersten Emir, Hibatullah Achundsada, sein. Auf dessen Anordnung, erklärte der Provinzsprecher der Taliban, wolle man mit der Maßnahme die Unmoral eindämmen, den weitverbreiteten Konsum von Pornografie. Vergangenen Montag, nach diesem Testlauf, folgte die Abschaltung im ganzen Land.

Chaos seither. Familien sind auseinandergerissen. Hek­tische Versuche von Millionen Afghanen, einander zu erreichen. Viele Familien sind abhängig von Zahlungen ihrer Verwand­ten, die in den Vorjahren ins Ausland flohen. Deren Überwei­sungen zählen zu den wichtigsten Stützen der afghanischen Wirtschaft. Konsulate konnten keine Visa mehr ausstellen, das Finanzministerium keine Steuern mehr einnehmen. Die Abgabe der Steuern passiert zum Teil digital. Auch die Tali­ban untereinander haben mit Vorliebe über WhatsApp mitein­ander kommuniziert. Schon vor einem Jahr kursierten Ge­rüchte, dass die Talibanführung die Komplettabschaltung pla­ne. Am heutigen Mittwoch begründete der Sprecher der Zen­tralregierung in Kabul die Maßnahme plötzlich nicht mehr mit dem Kampf gegen die Unmoral. Er nannte technische Gründe. Wartungsarbeiten. Die Glasfaserkabel seien marode.

Es heißt, am Dienstag habe sich der Emir geweigert, den Kommunikationsminister zu empfangen. Der habe vor der Abschaltung gewarnt. Die Lage hat sich am Mittwochnach­mittag dann noch einmal gewendet. Wieder sind die Hinter­gründe im Ungewissen. Das gesamte Kabinett soll aus Kabul nach Kandahar angereist sein, um sich mit dem Emir zu einer Krisensitzung zu treffen – mit dem Ergebnis, dass Afghani­stan wieder ans Netz genommen wurde.

Es bleiben Verunsicherung und Sorge

Was bleibt? Eine tief verunsicherte Bevölkerung. Angst in vielen Haushalten, wieder abgeschaltet zu werden, erneut aus der Welt zu fallen, das Gefühl, dass jedes Telefongespräch das letzte gewesen sein könnte. Investoren aus China und den Golfstaaten, von den Taliban bisher heiß umworben, dürften neue Zweifel an der Verlässlichkeit des afghanischen Mark­tes bekommen haben.

Was bleibt, ist auch die Sorge vor neuen Konflikten und Ris­sen innerhalb der Talibanbewegung. Bedeutet die Rücknah­me des Blackouts die erste große Niederlage des Emirs im in­ternen Ringen um die Macht? Bisher galt sein Wort als abso­lut. Er allein gilt als die entscheidende Kraft hinter dem Bil­dungsverbot für Frauen und Mädchen. 

Mein Telefon in Deutschland klingelt jetzt pausenlos. Unent­wegt melden sich Bekannte, die in den letzten Tagen von mir verzweifelt angemorst worden waren. Pling für Pling senden sie die Botschaft: Wir sind wieder da.

Die Frage ist: wie lange noch?