Philosoph Hanno Sauer: „Wir können nicht die Gesamtheit Teil welcher Oberschicht sein. Es ist unmöglich“
Wo liegen die Ursprünge sozialer Ungleichheit? Dieser Frage spürt Hanno Sauer in seinem neuen Buch Klasse: Die Entstehung von Oben und Unten nach. Für den Philosophen sind Klassen nicht in erster Linie ökonomische Kategorien, sondern symbolische. Er interessiert sich mehr für den Unterschied durch prestigeträchtige Titel und Verhaltensweisen als durch Materielles. Was heißt das für den linken Kampf gegen Ungleichheit?
der Freitag: Herr Sauer, woran denken Sie bei folgenden Wörtern: Gedanke, und, schön, von, ausdenken, gelb, der?
Hanno Sauer: Das sind die sieben Wörter, anhand derer man einer US-Studie zufolge bereits ziemlich verlässlich die Klassenzugehörigkeit des Sprechers ablesen kann. Ob ich Ihre Klasse anhand dieser sieben Wörter erkannt hätte? Schwer zu sagen, ich wusste ja schon etwas mehr über Sie. Sie lesen offenbar anspruchsvolle Bücher. Sie sind Journalist, haben also einen Beruf mit relativ viel Prestige. Wahrscheinlich haben Sie einen akademischen Hintergrund. Aber es ist erstaunlich, wie schnell wir erkennen, zu welcher sozialen Klasse unser Gegenüber gehört. Sieben Wörter reichen offenbar, zumindest in den USA, wo der Akzent sehr viel über den sozialen Hintergrund offenbart, womöglich aber auch bei uns. Eine Studie hat gezeigt: Wir können auf die Klasse eines Menschen schließen, wenn wir lediglich sein Gesicht sehen – ohne dass irgendwer vernünftig erklären könnte, wie das geht.
Jede Klasse, schreiben Sie, definiert Klasse anders.
Ja. Klassendefinitionen sind selbst klassenabhängig. Alle Menschen haben zwar eine ungefähre Vorstellung, auf welche Kriterien es dabei ankommt. Aber die Gewichtung unterscheidet sich stark. Für Menschen mit niedrigem ökonomischen Status ist Geld oft das bestimmende Klassenmerkmal: Wer arm ist, ist unten. Wer reich ist, ist Teil der Oberschicht.
Die Angehörigen der Mittelschicht betrachten nicht Geld, sondern Bildung als primäres Unterscheidungskriterium
Und dann darf sich der Arbeiter über einen kleinen Lottogewinn freuen, aber wird trotzdem nicht zum Mittelschichtsmenschen.
Nicht wirklich, und womöglich zu seinem eigenen Erstaunen. Die Angehörigen der Mittelschicht betrachten nämlich wiederum nicht Geld, sondern Bildung als primäres soziales Unterscheidungskriterium. Für Menschen mit sehr hohem sozioökonomischen Status spielen dagegen Fragen des Lebensstils und des Geschmacks eine entscheidende Rolle. Die Mitgliedschaft in einem prestigeträchtigen Segelclub, ein ausgewählter Kunstgeschmack, die passende Ausdrucksweise – das zählt, weil Geld und Bildung ja gar nicht mehr den Unterschied machen.
So erklärt sich vielleicht auch das viel beschriebene Leid der Bildungsaufsteiger, die studiert, vielleicht sogar promoviert haben, nur um dann festzustellen, dass sie doch nicht so richtig zu den gehobenen Kreisen gehören.
Die unteren Schichten unterliegen dem Irrtum, Geld verschaffe den sozialen Aufstieg. Die Mittelschicht dem Irrtum, dass Bildung sie automatisch nach oben bringt. Und dann stellen sie fest: So einfach ist es gar nicht. Oft sind diese Aufsteiger umso bemühter, zumindest bei ihren Kindern den Mangel zu kompensieren. Die sollen unbedingt auf exklusive Schulen, damit sie den passenden Habitus ausbilden, den man als einfacher Bildungsaufsteiger selbst nicht mehr nachholen kann.
Was sind überhaupt Klassen?
Klasse versteht man am besten als sozial konstruierte Knappheit. Die Knappheit entsteht aus Statuswettbewerben, die mit kostspieligen Signalen ausgetragen werden. Zu einer Klasse gehört, wer die entsprechenden Signale senden kann. Die Signale werden umso kostspieliger und subtiler, je weiter nach oben man kommt: Geld zu haben ist banal, Bildung zu erwerben und vorzeigen zu können schon komplizierter, und den richtigen Stallgeruch sowie die selbstverständliche Weltgewandtheit und Souveränität im Auftreten entwickelt man eigentlich nur, wenn man es von klein auf lernt.
Ich habe nie verstanden, warum sich manche Spitzenpolitiker mit der Aussage blamieren, sie gehörten zur Mittelschicht
Sie schreiben, auf einer Skala von 0 bis 10, von absoluter Unterschicht bis oberster Elite, geben Sie sich einen Wert von 9,5.
Das ist natürlich eine kleine Provokation, die ich mir erlaubt habe. Ich habe nie verstanden, warum sich manche Spitzenpolitiker mit Millioneneinkommen mit der Aussage blamieren, sie gehörten zur Mittelschicht. Man gesteht sich erstaunlich selten ein, dass man zur Oberschicht oder Elite zählt.
Trotzdem sortieren Sie sich selbst für einen Universitätsprofessor erstaunlich weit oben ein. Ich würde mich hingegen eher bei 6 oder 7 sehen.
Ehrlich? 40 Prozent der Bevölkerung sollen sozial höhergestellt sein als Sie? Vielleicht ist es bei Ihnen so wie bei vielen Menschen in Kreativ- und Wissensberufen: Sie haben zwar einen hohen Status, aber eine vergleichsweise niedrige Bezahlung. Vielleicht wollen Sie das durch Kulturbeflissenheit kompensieren. Oder durch eine betont progressive Moral.
Sie teilen gegen Philosophieprofessoren aus, die egalitäre Positionen vertreten und sich für die Umverteilung großer Vermögen starkmachen – weil sie selbst sich nicht über Geld definieren.
Das ist der Punkt: Diese Personen, denen materielle Ungleichheiten nicht so wichtig sind, vermerken in ihrem Lebenslauf selbstverständlich, ob sie die John-Locke-Lectures in Oxford gehalten haben oder nur einen Vortrag an der Uni Entenhausen. Mach ich auch so. Ich möchte mal sehen, wie die Kollegen auf die Forderung reagieren würden, die Statusunterschiede in einem Feld aufzuweichen, das ihnen wichtiger ist.
Das Prestigedenken in uns angelegt. Ich würde sogar vermuten, es gehört zur menschlichen Natur
Trotzdem kann es richtig sein, armen Menschen mehr zu geben.
Absolut. Aber wir sollten uns der Grenzen solcher Maßnahmen bewusst sein: Paradoxerweise kann nämlich die Zuweisung von eigentlich statuserhöhenden Gütern sich statusmindernd auswirken. Normalerweise erhöht Geld den sozialen Status. Aber Transferzahlungen rufen vielen Bedürftigen erst recht in Erinnerung, wo sie eigentlich stehen in der sozialen Hierarchie. In der Forschung heißt das „welfare stigma“.
Sie meinen wirklich, wir können Schulen und Universitäten bauen, Bildungschancen ausweiten, wir können Steuern für Reiche erhöhen und Arme finanziell unterstützen – aber jede egalitäre Politik verfehle ihr Ziel, weil sich der soziale Status nicht umverteilen lässt?
Nicht ganz. Meinen sozialen Status kann ich nur verbessern, indem jemand anderes relativ zu mir schlechter steht. Wir können nicht alle mehr Status haben. Wir können nicht alle Teil der Oberklasse sein. Es ist logisch unmöglich, und trotzdem tappen wir immer wieder in diese Falle. Ein Beispiel: Bei mir in Düsseldorf war gerade Kommunalwahlkampf, und auf fast jedem Plakat stand: Mehr bezahlbare Wohnungen. Natürlich gibt es genug bezahlbare Wohnungen, irgendwo draußen auf dem Land. Aber darum geht es nicht. Man will den bezahlbaren Wohnraum dort, wo es sich nur wenige leisten können, in den schönen und angesagten Großstadtvierteln. Aber wenn es dort Wohnungen für alle gäbe, verlören diese Szeneviertel eben ihre Funktion als Statusmarker. Coole Viertel für alle kann es nicht geben, weil die Coolness eben davon abhängt, dass nicht jeder dort eine Wohnung bekommt. Die Forderung ist nicht erfüllbar. Wir können dem Statuswettbewerb nicht entkommen.
Warum nicht?
Weil das Prestigedenken in uns angelegt ist, ich würde sogar vermuten, es gehört zur menschlichen Natur. Wir sind soziale Wesen und deswegen auf die Kooperation mit anderen Menschen angelegt. Daraus entsteht die Statusdynamik: Wir müssen anderen Signale senden, damit wir als vertrauenswürdiger Kooperationspartner infrage kommen. Es gibt einen kulturübergreifenden Konsens, welche Kriterien dabei als statuserhöhend wirken, im Wesentlichen sind es zwei: Intelligenz und Integrität. Ich habe was auf dem Kasten und haue dich nicht übers Ohr.
Eine klassenlose Gesellschaft ist nicht zu haben. Alle Utopien sind gescheitert
Sie wollen nicht ernsthaft behaupten, die Elite zeichne sich stets durch besondere Intelligenz und Aufrichtigkeit aus?
Das korreliert keineswegs perfekt, und es gibt auch immer wieder Versuche, diese Statussignale zu faken oder nachzuhelfen. Darauf beruht ja das Geschäft vieler Ivy-League-Universitäten: Da studieren die Reichen, um sich etwas vom Nimbus der Cleveren zu leihen – und umgekehrt. Gelingt nicht immer, es glaubt ja schließlich kein Mensch, dass US-Präsident Donald Trump aus eigener Kraft die Wharton School gepackt hat. Aber über den Daumen gepeilt: Schlau und anständig zu sein, ist in der Regel eine gute Voraussetzung dafür, auch sozial gut gestellt zu sein. Manchmal werde ich gefragt: Sind reichere Menschen bessere Menschen?
Sind sie?
Man hört es ungern, aber meine Antwort ist: im Durchschnitt ja. Ich weiß, das klingt unangenehm, schließlich haben wir diesen egalitären Impuls, wir hätten es gerne immer gleich und wollen uns ungern eingestehen, dass die Reichen nicht notwendigerweise alle Clowns und Halunken sind. Aber nehmen wir einmal eine Handlung, die wir beide eindeutig als moralisch verwerflich betrachten würden: häusliche Gewalt. Sie kommt in sozioökonomisch prekären Kreisen deutlich häufiger vor als in den gehobenen Milieus.
Man liest aus Ihrem Buch eine etwas fatalistische Haltung heraus: Wir werden die Ungleichheit nicht in den Griff bekommen.
Ich würde mich politisch nicht als besonders konservativ bezeichnen, aber in dem Punkt läuft es darauf hinaus: Eine klassenlose Gesellschaft ist nicht zu haben.
Also legen wir einfach die Hände in den Schoß und tun nichts?
Wir sollten Chancengleichheit anstreben, soziale Aufstiege ermöglichen und Abstiege verhindern. Die Unterschiede, die sich herausbilden, sollten wir nicht offiziell kodifizieren oder mit vererbbaren Privilegien versehen. Es muss verpönt sein, arme und ungebildete Menschen zu verspotten. Aber viel mehr? Entwürfe für Utopien einer egalitären Gesellschaft gibt es sehr, sehr viele. Nur wirklich funktioniert hat bisher keine.
Hanno Sauer (geboren 1983) lehrt Ethik an der Universität Utrecht in den Niederlanden. Dort forscht er zur Frage, inwiefern empirische Daten aus der Sozialpsychologie oder den Neurowissenschaften für die Diskussion über Moral hilfreich sein können. Sein neues Buch Klasse. Die Entstehung von oben und unten ist soeben im Piper-Verlag erschienen (368 S., 26 €). Sauer lebt mit seiner Familie in Düsseldorf.