Indische Architektur: Normen sind nur Antibiotika
Geboren 1967 in Pune im Bundesstaat Maharashtra, hat sich Anupama Kundoo schon als Studentin in den späten Achtzigerjahren dem Bauboom in Indiens Großstädten verweigert. Jobs hätte es wie Sand am Meer gegeben, doch Kundoo zog von Bombay in den Süden des Subkontinents, baute sich in der utopischen Planstadt Auroville an der Ostküste Tamil Nadus eine simple Hütte, die zugleich als Wohnung und Büro diente. Da war sie dreiundzwanzig.
Von Anfang an ging es ihr um die Verwendung lokaler Ressourcen, um die Zurückweisung der Ansicht, Indien sei ein armes Land. Sie weigerte sich, den Mangel an Kapital mit einem Mangel an Ideen, Handwerkskunst, Formenvielfalt gleichzusetzen. Reichtum als eine Frage der Definition. Sie baute weiter, viele Gebäude in ihrem direkten Umfeld, das Rathaus von Auroville, die Jugendherberge, eine Wohnanlage und am Stadtrand ein Wohnhaus, das sie Wall House taufte. Mit ihm begann sich im Jahr 2000 das Blatt zu wenden.

Der Laufbahn dieser außergewöhnlichen Frau geht derzeit das Wiener Architekturzentrum mit einer Ausstellung nach, kuratiert von dessen Leiterin Angelika Fitz und Elke Krasny. Sie holt die Atmosphäre Südindiens in die barocke Ziegelhalle am Ende des Museumsquartiers, die Fischer von Erlach gebaut hat. Die Kuratorinnen sind zur Vorbereitung in Auroville gewesen, wohnten im Wall House, um dessen Aura zu erspüren.
Dieser Aufenthalt trägt Früchte: Die Schau verschmilzt Bestand (Tonnengewölbe, massiver Dielenboden) und Exponate in Originalgröße (Hut Petite Ferme, Sanitärzellen), Mobiliar, Modelle und Baustoffmuster zu einem naturfarben dezenten, beruhigenden Raumgefühl. Wohlfühlatmosphäre ist auch das, was Kundoo mit ihrer Architektur anstrebt. Wäre der Begriff „Aufenthaltsqualität“ nicht so abgelutscht, hier müsste er zum Tragen kommen.

Das luftige, nach mehreren Seiten mittels Klappelementen zu öffnende Wall House ist nach seinen zweistöckigen unverputzten Ziegelmauern benannt. Diese Tonziegel werden vor Ort in temporären Öfen gebrannt, die nach dem Brennvorgang Backstein für Backstein zerlegt und verbaut werden, um dann wieder Feldern Platz zu machen. Die Ziegel sind dünn und unregelmäßig; mit Kennerschaft gefügt, tragen sie auch große Lasten. Gleiches gilt für die gewölbte Decke aus konischen, hohlen Tonkegeln, die ineinandergesteckt und auf der Außenseite von einer Schicht Ferrozement geschützt werden. Die Keramikdecke sorgt durch ihre Hohlräume für eine gute Klimatisierung.
Ferrozement stammt aus den Anfangstagen des Stahlbetonbaus – ein Drahtgeflecht, wie es für Hühnerställe zum Einsatz kommt, wird in eine kaum drei Zentimeter dicke Zementschicht eingeputzt. Er dient Kundoo für viele Einsatzzwecke, ein einfach und billig herstellbares Material, prädestiniert für Leichtbauweise, etwa Module zum Innenausbau von Wohnungen. Aber Ferrozement kann auch, bei geschickter Faltung, große Lasten aufnehmen. Durch Beimischung von Pigmenten wird er zum Farbelement und unterstützt eine moderne, ortsspezifische Architektursprache.

Das Wall House war der Schlüssel zum internationalen Durchbruch. Für die Architektur Biennale in Venedig baute Kundoo 2012 das Wall House eins zu eins in Rekordzeit zum zweiten Mal. Ihre heimischen Handwerker hatten das komplette Baumaterial in Container verpackt und an die Lagune verschifft. Die Architekturwelt staunte und fühlte sich in dem Bau wohl. Da war Kundoo schon mit einem Standbein im Westen angekommen, Mitte der Nullerjahre hatte die indische Architektin an der Technischen Universität Berlin über Lehmhausbau promoviert. Nach Gastprofessuren in Yale und an der Columbia hat sie heute eine Professur an der TU Berlin inne, betreibt Büros in Berlin, Mumbai und Pondicherry.
Aber gebaut hat sie im Westen bislang nichts, sie konzentriert sich auf ihre Heimat. Das alles ist in der Ausstellung in einem Film zu sehen, in dem Kundoo auch Einblicke in ihr Privatleben gibt. Als ihre Mutter schwer erkrankt, holt sie sie nach Auroville und pflegt sie dort bis zum Ende. In ihrem großen, luftigen Haus, so wie es sich ihre Mutter immer erträumt hatte. Innerhalb weniger Jahre verliert sie auch ihre Schwester und ihren Vater. Diese Prüfung gab ihrem Nachdenken über Architektur eine Wende. Fortan konzentriert sie sich noch mehr darauf, dem Westen den Spiegel vorzuhalten.
Dessen Architekturmodell und seine Bauindustrie dominiere den Planeten – aber was sei damit gewonnen? Für bedarfsgerechtes Bauen gebe es rund um die Welt genügend lokale Expertise, auch ganz ohne Vorschriften. Normen, im Tornister des Kolonialismus zu Vorreitern der globalisierten Welt geworden, nennt Kundoo ein „Breitband-Antibiotikum“. Dass das auch für die aktuell existierenden 3900 deutschen Baunormen gilt, beklagen hierzulande immer mehr Architekten und Bauherren und suchen nach Abhilfe, Stichwort „Einfaches Bauen“.

In Auroville hat Kundoo unter anderem das Rathaus, eine Jugendherberge und eine Wohnanlage gebaut. Nun soll die Stadt unter dem Druck der indischen Regierung endgültig zum Wachstum verpflichtet werden, um die im Gründungsjahr 1968 geplante Einwohnerzahl von 50.000 endlich zu erreichen. Aktuell leben dort 3000 Menschen aus sechzig Nationen. Eine „Arte“-Dokumentation zeigte unlängst groß angelegte Bauarbeiten. Eine Ringstraße wird gebaut, ein See soll den überkonfessionellen Matrimandir-Tempel im Zentrum der Stadt umschließen, aber es hapert nicht nur an der Wasserversorgung.
Die Verstädterung der Welt sei epidemisch, aber Stahlbeton könne nicht das Baumaterial der Zukunft sein, sagt Kundoo. Dem Profitstreben der Bauindustrie, deren Ignoranz gegenüber dem Klimawandel tritt sie mit widerständigem Denken und Planen entgegen. Eine selbstbewusste, eine realistische Prophetin: Indien habe sie gelehrt, ihre eigene Bedeutungslosigkeit zu akzeptieren. Die Ausstellung vermittelt gerade deswegen das Gefühl, dass es sich lohnen könnte, andere, egalitärere Denkwege einzuschlagen.
„Reichtum statt Kapital. Anupama Kundoo“, Architekturzentrum Wien, bis 16. Februar 2026. Der englischsprachige Begleitband (The MIT-Press) kostet in der Ausstellung 38 Euro.
Source: faz.net