Verspätungen: Was die Deutsche Bahn jetzt tun muss

Manchmal liefert die Realität den besten Kommentar. So wie am Montag. Da pries Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder gerade seine „Agenda für zufriedene Kunden auf der Schiene“ an, neben ihm saß die neue Bahnchefin Evelyn Palla. Viel war von Reformen die Rede, von Verbesserungen und von Aufbruch.
Knapp 200 Kilometer westlich dagegen wurde jeder Aufbruch im Keim erstickt, da herrschte ganz praktisch Stillstand. Bei Uelzen war die Oberleitung kaputt. Dadurch wurde die Strecke von Hannover nach Hamburg unterbrochen, Züge fielen aus, Pendler konnten nicht zur Arbeit. Von Berlin nach Hamburg kam gar niemand mehr. Die direkte Strecke ist derzeit sowieso für Monate gesperrt, nun fiel auch noch die Umleitung aus. Güterzüge mussten Hunderte Kilometer an Umwegen in Kauf nehmen. „Es ist der verkehrliche Albtraum, vor dem wir immer gewarnt haben“, schimpfte der Geschäftsführer des Netzwerkes Güterbahnen, Peter Westenberger.
Ausgefallene Stellwerke, defekte Weichen, Personalmangel
Es ist kein seltener Albtraum. Täglich gibt es irgendwo im Bahnnetz Störungen. Es fallen Stellwerke aus, weil sie noch aus Kaisers Zeiten stammen, Weichen sind defekt oder Züge bleiben kaputt liegen. Wenn die Technik mal nicht streikt, dann fehlt das Personal, weil es krank ist oder in einem anderen verspäteten Zug steckt. Noch nie waren Deutschlands Züge so unpünktlich wie im Jahr 2025. Im Fernverkehr kommen von zehn Zügen, die tatsächlich auch fahren, nur noch sechs einigermaßen pünktlich ans Ziel. Vor zehn Jahren waren die Deutschen auch schon unzufrieden, doch da erreichten noch acht von zehn Zügen den nächsten Bahnhof zur geplanten Zeit.
Es ist also noch ein weiter Weg bis in eine bessere Eisenbahn-Welt und „zufriedenen Kunden auf der Schiene“ – und die Ankunft wird sich, nun ja, verspäten. Evelyn Palla war noch gar nicht offiziell im Amt, da legte sie die Latte schon tiefer: „Nichts wird schnell gehen“, sagte sie. Das hat einen einfachen Grund. Palla und ihr Chef, Verkehrsminister Schnieder, setzen auf das Prinzip: Bauen, bauen, bauen. Die störungsanfälligen Hauptstrecken sollen saniert und dafür monatelang gesperrt werden. Falls sich im Bundeshaushalt unverhofft noch irgendwo Geld findet, sollen Bahnstrecken erweitert und neue verlegt werden.
30 Prozent mehr Züge sorgen für Überlastung
Der Neubau war faktisch zum Erliegen gekommen. Deshalb sind Verspätungen kein Wunder – denn der Bahnverkehr ist deutlich gewachsen. Trotz aller Klagen über Preise und Unpünktlichkeiten lassen sich die Deutschen nicht vom Bahnfahren abhalten, die Passagierzahlen steigen stetig und schneller als die Zahl der Autofahrten. Nach Angaben der Bahn fahren heute fast 30 Prozent mehr Züge als Ende 1993, zu der Zeit, als die Bahn noch eine Behörde war. Das Schienennetz ist nicht im gleichen Maße mitgewachsen, auf Nebenstrecken sogar geschrumpft. Die Folge ist oft Überlastung. Auf der Strecke zwischen Köln und Düsseldorf waren zeitweise 40 Prozent mehr Züge unterwegs, als die Gleise offiziell überhaupt hergeben. Die Bahn selbst sagt: Nur an 18 Prozent der Verspätungen ist kaputtes Material schuld, 61 Prozent dagegen entstehen schlicht durch Stau auf der Schiene. Das Phänomen hat einen eindrücklichen Namen: Wenn ein Zug vorne viele andere hinter ihm blockiert, dann sprechen Eisenbahner intern von einer „Blutspur“.
Mit einem Teil seiner Pläne ist Schnieder schon gescheitert. Die Betriebsgesellschaft für Schienen und Bahnhöfe, InfraGo, soll unabhängiger vom Rest des Konzerns werden. An ihre Spitze wollte Schnieder den ehemaligen Bahnmanager Dirk Rompf setzen. Doch die Gewerkschaft warf Rompf vor, eine Mitschuld daran zu tragen, dass das Bahnnetz einst kaputtgespart worden war. Rompf verzichtete, der bisherige Chef Philipp Nagl behält seinen Posten doch.
Sanierung dauert bis 2036
Und dieser Chef wird noch lange zu tun haben. Jedes Jahr werden höchstens vier Hauptstrecken generalsaniert, weil die Bauindustrie und die Bahn selbst gar nicht mehr schaffen. Selbst wenn die Sanierungen im Plan bleiben, sind die Vorhaben erst 2036 geschafft, Neu- und Ausbau werden noch viel länger dauern.
Entsprechend gering sind die Ambitionen für die nahe Zukunft. Nur 70 Prozent Pünktlichkeit will Verkehrsminister Schnieder bis 2029 schaffen. Erst spät im kommenden Jahrzehnt soll die Bahn wieder so zuverlässig sein, wie ältere Deutsche sie noch kennen. Zum Trost verlangte Schnieder am Montag in seiner Strategieveröffentlichung drei Sofortprogramme für mehr Sauberkeit und Sicherheit in Bahnhöfen, für bessere Kundenkommunikation und mehr Komfort in den Zügen. Wenn die Kunden schon zu spät ankommen, sollen sie sich dabei wenigstens besser fühlen.
Weniger Züge könnten Pünktlichkeit verbessern
Muss die neue Bahnchefin Evelyn Palla wirklich so ambitionslos sein? Nicht unbedingt. Es gibt viele Ideen für kleine Maßnahmen, mit denen die 52 Jahre alte Südtirolerin und ihr Netz-Chef für mehr Pünktlichkeit sorgen können. Keine ist ohne Nebenwirkung – aber pünktlicher könnte es schon werden.
Wenn auf den Schienen ständig Stau herrscht, dann ist die erste Idee natürlich: weniger Züge fahren zu lassen, durch die großen Engpässe wie die Hohenzollernbrücke vor dem Kölner Dom oder in den Frankfurter Hauptbahnhof. Der Gedanke dahinter: Wenn auf überfüllten Strecken an neuralgischen Punkten weniger Züge durchgeschleust werden, dann wirken sich Verspätungen einzelner Züge nicht so stark auf die nachfolgenden aus. „Wenig genutzte Regionalzüge könnten gestrichen oder ihr Zielbahnhof auf große Stationen am Stadtrand verlagert werden, um die Hauptbahnhöfe zu entlasten“, schlägt Christian Böttger, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, vor. Kurz hintereinander fahrende ICE-Züge könnten zusammengefasst werden. Für manche Fahrgäste würde das bedeuten, dass sie öfter umsteigen müssten.
Mehr Zeitpuffer zwischen den Zügen
Tatsächlich plant die Bahn offenbar mit mehr Zeitpuffer zwischen den Zügen. Immer wieder nämlich käme es laut Bundesnetzagentur vor, dass Mindestzeiten unterschritten würden. Weil ein Bahnunternehmen noch einen Zug dazwischenquetschen möchte. Für das kommende Jahr, so die Bundesnetzagentur, plane InfraGo, „die Mindestzeiten zumindest auf einigen überlasteten Strecken wieder verstärkt einzuhalten“. Das könnte Zugstreichungen zur Folge haben.
Solche Streichungen dünnen nicht nur den Takt aus. Die Züge, die noch fahren, würden auch voller. Denn nicht immer lässt sich noch ein Wagen an einen Zug anhängen, manchmal sind die Bahnsteige schlicht nicht lang genug. Trotzdem ist die Mehrheit der Fahrgäste für eine solche Anpassung zu haben: In einer Umfrage der Bundesnetzagentur aus dem Jahr 2024 bevorzugten mehr als 80 Prozent der befragten Fahrgäste verlässliche Verbindungen gegenüber einer höheren Zugtaktung. Alternativ könnte die Bahn ihre Züge auch langsamer fahren lassen, vor allem die ICEs. Je ähnlicher die Geschwindigkeiten auf der Strecke sind, desto mehr Züge können über einen Streckenabschnitt fahren. Nachteil für die Passagiere: Die Fahrzeit verlängert sich.
Passagiere müssen schneller einsteigen
Außerdem könnte die Bahn den Fahrgästen Tempo machen. Für Aufsehen sorgte der Fall eines Passagiers, der sich 15 Minuten in die Tür eines ICE stellte, bis seine bestellte Pizza eintraf. Häufiger kommt es vor, dass Fahrgäste Türen blockieren, damit andere verspätete Passagiere zusteigen können. Noch größer ist allerdings die alltägliche Schludrigkeit: Selbst beim Einstieg in lange ICE ballen sich die Fahrgäste oft an wenigen Türen. Wenn jeder Halt zwei oder drei Minuten länger dauert, macht das auf die Fahrt eines ICE schnell eine Viertelstunde aus. Und das ist noch das kleinere Problem. Wenn der Zug seine Abfahrtzeit verpasst, dann wird das Ausfahrgleis oft schon von einem anderen Zug blockiert, und die Verspätung wächst weiter.
Zur Not könnten schlicht die im Fahrplan eingeplanten Haltezeiten der Züge im Bahnhof verlängert werden. Der Haken: Die Gleise wären länger belegt, die sowieso schon überlasteten Bahnhöfe hätten noch weniger Kapazität. Denkbar wäre stattdessen, am Bahnsteig und in der App anzuzeigen, welche Waggons noch viele freie Plätze haben. Zusätzliches Personal könnte die Passagiere dorthin komplimentieren. Manche S-Bahn hat solches Personal schon an belebten Stationen, in Berlin ist das Blockieren von Türen inzwischen unter Strafe gestellt.
Reservierungspflicht für Sparpreise
Im Fernverkehr könnte auch eine Reservierungspflicht helfen, entweder für alle Sitzplätze, wie es sie im französischen TGV schon gibt, oder nur für Fahrräder. Dann weiß jeder Passagier, wo sein Waggon ist, die Züge sind nicht überfüllt, und der Einstieg wird beschleunigt. Entsprechende Versuche zu Zeiten des Bahnchefs Hartmut Mehdorn sorgten für einen öffentlichen Aufruhr, weil Bahnfahren dadurch unflexibler würde, und wurden schnell beendet.
Heute kann sich Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn so eine Pflicht zumindest für die Sparpreise vorstellen. „Deren Flexibilität ist eh eingeschränkt, weil die Tickets an einen bestimmten Zug gebunden sind.“ Manchmal helfen auch kleine Maßnahmen: „In Hamburg wurden die engen Bahnsteige von Kiosken befreit und Sitzgelegenheiten platzsparender montiert, um mehr Fläche für die Passagiere zu schaffen.“
Problem: Weniger Züge, weniger Einnahmen für Bahn
All diese Beispiele zeigen: Evelyn Palla könnte an einigen Stellschrauben drehen, damit die Bahn schneller pünktlicher wird. Aber alles hat seinen Preis. Zum einen im direkten Wortsinn: Die Maßnahmen kosten Geld. Wenn weniger Züge fahren, würde der verlustträchtige Fernverkehr Passagiere verlieren. Die Infrastrukturgesellschaft, die pro Zug bezahlt wird, hätte weniger Einnahmen. Und im Regionalverkehr haben die Länder eine festgelegte Zahl von Zügen bestellt und bezahlt. Diese Verträge laufen zum Teil noch eine Weile.
Zum anderen provozieren Zugstreichungen politischen Widerstand. Wer sollte auf Züge verzichten? Der Fern- oder der Regionalverkehr? Oder die Unternehmen über weniger Güterzüge? Oder der private Wettbewerber Flixtrain, der aber eigentlich expandieren will? Die bisherige Regelung macht dafür keine eindeutigen Vorgaben, vieles wird bisher in Koordinierungsrunden der Zugbetreiber ausgekungelt. Auf jeden Fall sind Zugstreichungen nur dann sinnvoll, wenn kein anderer Zugbetreiber die Lücke füllt.
Widerstand von Umweltgruppen und Lokalpolitikern
Der Streit ginge noch weiter: Umweltgruppen sähen den Umstieg auf einen umweltfreundlichen Verkehr gefährdet, Lokalpolitiker fürchteten um die Anbindung ihrer Orte. Schon vor der Veröffentlichung des neuen Fahrplans für das Jahr 2026 gab es heftige Debatten, als aus wirtschaftlichen Gründen über manche Zugverbindungen diskutiert wurde. Nach all dem Druck betont die Bahn jetzt: „Wir halten trotz der vielen Baustellen das Angebotsvolumen auch 2026 konstant hoch auf dem Rekordniveau des Vorjahrs.“
Wenn Evelyn Palla ihre Züge schnell pünktlicher haben will, muss sie diese Diskussionen führen. Ihr könnte dabei helfen, dass sie als ehemalige Chefin der Regio-Sparte Kontakte zu den Bundesländern aufgebaut hat. Sie kann aber auch im eigenen Haus für Verbesserungen sorgen, die wenig Widerstand erzeugen dürften: mehr Eigenverantwortung an Ort und Stelle, damit bei Verspätungen schneller entschieden werden kann. Mehr und flexibler einsetzbares Personal, zum Beispiel durch mehr Ausbildung von Stellwerkern. „Das wurde viele Jahre vernachlässigt und ist auch heute noch schwierig“, sagt Birgit Milius, Professorin für Bahnbetrieb an der TU Berlin. „Grundsätzlich ist es wichtig, dass die Bahn mehr an ihrem Ansehen arbeitet, um als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen zu werden.“ 2025 wird die Bahn mehr als 20.000 Mitarbeiter einstellen. Und auch hier gilt: Wenn weniger Züge führen, würde das System entlastet – in diesem Fall würde der Personalbedarf kleiner.
Und wenn Gesetzesänderungen den Bau von Überholgleisen nicht mehr an jahrelange Planungen knüpfen würden, wäre auch viel Zeit gewonnen. Dann kann die Bahn schon früher für Schnieders „zufriedene Kunden“ sorgen.