Mehrarbeit – die „schwarze Pädagogik“ dieser Bundesrepublik

Stand: 26.09.2025 18:41 Uhr

Kanzler Merz wirbt für gesellschaftliche Kraftanstrengung, Mehrarbeit und Verzicht auf soziale Leistungen. Ähnliche Appelle gab es auch unter früheren Kanzlern – heute könnten die Aussagen für neue soziale Konflikte sorgen.

Von Wilm Hüffer, SWR

Friedrich Merz setzt auf moralische Appelle. Schon kurz vor seiner Wahl zum Bundeskanzler wünschte er sich eine „gewaltige Kraftanstrengung“ zur Überwindung der wirtschaftlichen Krise. Weitere Ratschläge folgten. Der Bundeskanzler erkannte die Notwendigkeit, „wieder mehr und vor allem effizienter zu arbeiten“. Der Sozialstaat sei volkswirtschaftlich sonst nicht mehr finanzierbar.

Ein drohender Unterton war dabei nicht zu überhören. Beim Parteitag der niedersächsischen CDU erklärte Merz Ende August, er werde sich von Worten wie „Sozialabbau und Kahlschlag und anderen möglichen Vorwürfen „nicht irritieren lassen“. 

Appelle an eine erschöpfte Gesellschaft

Bei solchen Appellen gehe es darum, die Gesellschaft insgesamt wieder zu mobilisieren, sagt der Soziologe Oliver Nachtwey von der Universität Basel. „Die Zähne zusammenbeißen“, das sei der erwünschte Effekt. Ein Problem aus der Sicht von Nachtwey: Es trifft die Gesellschaft „in einer Situation, in der alle erschöpft sind“. Aufgrund der vielen Krisen seien viele „nicht resilient gegen solche Zumutungen“. Dabei sei die „Leistungsideologie“ in Deutschland eigentlich in allen Bevölkerungsgruppen tief verankert. 

Wirken solche Appelle zu Mehrarbeit und Verzicht also überhaupt motivierend? Aus Sicht des Remagener Sozialwissenschaftlers Stefan Sell ist das fragwürdig. Während Geringverdiener um ihre Rente fürchten müssten, könnten sich Menschen mit Vermögen oder hohen Einkommen der „kollektiven Aufforderung“ zur Mehrarbeit entziehen.

„Beispielsweise gehen im oberen Einkommensbereich viele Leute in den vorzeitigen Ruhestand, weil sie es sich leisten können“, so Sell. „Länger erwerbsarbeiten sollen vor allem die anderen.“ Die vermeintliche „Kollektivhaftung“ werde vor allem jene treffen, „die eher in der unteren Hälfte der Gesellschaft ihr Überleben sicherstellen müssen“. 

Mit Druck und negativen Gefühlen arbeiten

Der Wirtschaftswissenschaftler sieht darin den Ausdruck „einer in Deutschland tief verankerten schwarzen Pädagogik“. Der politische Ansatz laute: „Du musst mit Druck, mit Drohung und mit negativen Gefühlen arbeiten, in der Hoffnung, die Leute damit zu einer Verhaltensänderung zwingen zu können.“

Aus Sicht von Sell stehen Merz‘ Appelle in einer Linie mit Helmut Kohls berühmter Warnung von 1993, eine Nation „mit Zukunft“ lasse „sich nicht als kollektiver Freizeitpark“ organisieren. Ähnliche Misstöne habe es auch während der rot-grünen Zeit der Hartz-Reformen gegeben. 2005 hatte der damalige Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) in einer Broschüre Arbeitslose mittelbar mit „Parasiten“ verglichen. 

Ideal einer „formierten Gesellschaft“ unter Erhard

Die Politik der „schwarzen Pädagogik“ reicht bis in die Nachkriegsjahre zurück. Bereits der Vater des Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, warnte 1959 im Bundestag vor der „Maßlosigkeit, die unser ganzes Volk mehr und mehr erfasst hat“. Sie gefährde die wirtschaftliche Stabilität. Als Bundeskanzler verfolgte Erhard ab 1964 das Ideal einer „formierten Gesellschaft“. Durchgesetzt werden sollten Arbeitszeiterhöhungen und Subventionsabbau. Einzelinteressen müssten sich dem „Gesamtwillen“ unterordnen.

Gemeint war mit letzterem vor allem die Wirtschaft. Erhards Berater Rüdiger Altmann formulierte damals martialisch, die Gesellschaft müsse lernen, „die Härte ihres ökonomisch-technischen Leistungskampfs zu akzeptieren“. Es gebe „kein soziales Paradies, das uns diese Härte erspart“. 

Weniger Geduld mit Armen und Arbeitslosen

Ähnlich klingende Appelle sorgen allerdings heute aus Sicht der Kritiker keineswegs für gesellschaftliche Besinnung, eher im Gegenteil. Ein Beispiel dafür: die erbitterte Debatte um das Bürgergeld. Seit Jahren attackieren Merz und CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann die Regelungen der Ampel-Regierung. „Diejenigen, die nicht arbeiten, aber arbeiten können, werden in Zukunft kein Bürgergeld mehr bekommen“, hatte der Kanzler bereits vor Regierungsantritt angekündigt.

Eine Ansage mit fataler Wirkung, glaubt Sozialwissenschaftler Sell, „weil es die Denke der Menschen über andere Menschen formiert“. 5,5 Millionen Menschen mit unterschiedlichen Lebensläufen würden kollektiv „eingedampft auf die Kunstfigur eines leistungsmissbrauchenden Transferleistungsempfängers“. Den gebe es zwar auch, er stelle aber nur eine kleine Minderheit dar. 

Das Ergebnis dieser Leistungsdebatte lasse sich am „Vielfaltsbarometer 2025“ der Robert Bosch Stiftung ablesen. Vor allem die Akzeptanz für die Vielfalt von Lebensformen und ethnischer Herkunft ist demnach zurückgegangen. Zugleich verzeichnen die Forscher, dass auch der Geduldsfaden gegenüber armen und arbeitslosen Menschen dünner wird. Das ist aus Sicht von Sell „das Ergebnis dieser moralisierenden und zugleich individualisierenden Diskussion“. 

„Politik einer Ressentiment-Maschine“

Der Soziologe Nachtwey sieht das ähnlich. Menschen, die ohnehin hart arbeiten müssten, würden immer einen Blick nach unten werfen, auf die Bezieher von staatlichen Transfer- oder Sozialleistungen. „Diese Gruppen werden hier gegeneinander ausgespielt“, glaubt Nachtwey. „Die Politik bedient existierende Ressentiments, die bei den Arbeitnehmern, die nach unten schauen, sogar eher noch verstärkt werden.“ 

Verschärft also die Politik der „schwarzen Pädagogik“ vor allem Verteilungskämpfe? Vergrößert sie den Stress bei Geringverdienern, während Vermögende und Gutverdiener die Leistungsappelle an sich abperlen lassen? Nachtwey sieht „eine Politik der Ressentiment-Maschine“ am Werk, „die eher auf das Konto der AfD einzahlen wird, als die Gesellschaft wieder produktiver und gemeinsinniger zu machen“. Sein Fazit: „Der Appell an den Gemeinsinn bewirkt das Gegenteil von dem, was er vorgeblich bezweckt.“

Source: tagesschau.de