Theater in Berlin: Wenn jeden Tag jener Tod droht

Man könnte meinen, Kulturveranstaltungen dürften in der Ukraine aktuell wenig gefragt sein, herrscht doch seit mehr als dreieinhalb Jahren Krieg. Doch wollte man Karten für „Die Hexe von Konotop“ im Kiewer Iwan-Franko-Theater bekommen, eine Theaterproduktion aus dem Jahr 2023, wurde man enttäuscht. Die Vorführungen waren ausverkauft. Und nun ist das Ensemble auf Tournee, denn das Stück hat einen regelrechten Hype ausgelöst. Und so konnte man „Die Hexe von Konotop“ immerhin am Montag in der Urania Berlin mit deutschen Über­titeln sehen – der große Zuschauersaal war komplett gefüllt, mit vorwiegend ukrainischem Publikum.

Das Stück basiert auf der in der Ukraine allseits bekannten satirischen Novelle von Hryhorij Kwitka-Osnowianenko aus dem Jahr 1833. Der Regisseur Ivan Uryvskyi hat den kanonischen Stoff, mit beein­druckenden folkloristischen Gesängen der Darsteller untermalt, auf die Bühne gebracht. Der dumpfe, charakterlich wie äußerlich wenig attraktive Kosakenkommandeur Mykita ist unglücklich in die schöne Olena verliebt. Als ihn ein Schreiben seines Vorgesetzten erreicht, beschließt er auf Anraten seines Schreibers, statt wie von oben befohlen mit seinen Männern nach Tschernihiv auszurücken, eine Hexenjagd in seiner Stadt zu veranstalten und sich so vor der Aufgabe zu drücken. Zwei der verdächtigten Frauen ertrinken – womit der Hexenverdacht ausgeräumt ist –, doch zur Überraschung aller überlebt die dritte.

Doch kein Happy End

Von dieser Hexe wünscht sich Mykita, dafür zu sorgen, dass die schöne Olena endlich seine Zuneigung erwidere. Doch die liebt den hübschen Jüngling Demjan. Verschiedene Zauber rund um Herzensangelegenheiten und Karrierewünsche führen zu diversen Intrigen, doch am Ende stehen zwei Hochzeiten. Olena und Demjan heiraten Dank der Hexenmagie nun doch, und auch der einfältige Kosakenkommandeur wird mit einer zu ihm passenden Dame vermählt. Vermeintlich ein Happy End also – bis die Hexe in ihrem Epilog schildert, dass die Ehe des jungen Paares in eine Katastrophe mündet, war sie doch durch ihren Zauber und nicht durch göttliche Hilfe entstanden.

Szene aus „Die Hexe von Konotop“
Szene aus „Die Hexe von Konotop“Anton Filonenko

Die schauspielerische Leistung der Darsteller überzeugt, ebenso wie die minimalistische, doch mit Liebe zum Detail vorgenommene Gestaltung der Bühne und der Kostüme. Die Sängerinnen tragen volkstümliche lange Kleider, Turban und Perlenketten, doch wie die Hauswand, die als Hintergrund dient, sind sie samt Gesicht und Händen weiß getüncht, was eine geisterhafte Atmosphäre erzeugt.

Die Darsteller, die nach dem Stück eine ukrainische Flagge mit auf die Bühne bringen, ernten tosenden Applaus. Die Zuschauer erheben sich, um ihre Begeisterung für die unterhaltsame Hexentragikomödie kundzutun. Sie scheint mit ihrer zugänglichen Art und ihrer musikalischen Aufmachung alle Anwesenden in den Bann gezogen zu haben. Das Ensemble wiederum dankt den ukrainischen Streitkräften, ohne die es dieses Stück nicht geben würde.

Postheroische Gesellschaft?

Doch damit ist die Vorstellung noch nicht beendet. Es folgt eine Verlosung, um Spenden für das ukrainische Militär zu sammeln. Die Schauspieler versteigern Theater-Merch und nehmen in wenigen Minuten Hunderte von Euro ein. Scherzhaft heißt es, es habe bei ihnen Tradition, dass für den Eintritt bei ihnen ein Ticket, und für den Austritt eine Spende notwendig sei.

Anders als gelegentlich zu lesen ist, bedeutet das überraschend große Interesse der Ukrainer an Kultur- und Freizeitaktivitäten gerade nicht, dass sie nicht opferbereit wären. Es beweist auch nicht, dass es sich bei ihnen um eine postheroische Gesellschaft handelt, der mit den Mitteln der Vergnügungsindustrie suggeriert werden könne, ein normales Leben zu führen.

Der Erfolg der „Hexe aus Konotio“ zeigt umgekehrt: Wenn jeder Tag der letzte sein kann, was wegen der ständigen Luftangriffe auch fernab der Front für die Hauptstadt gilt, möchte man möglichst viel aus diesem Leben machen. Zugleich wächst gerade angesichts der existen­ziellen Bedrohung das Interesse an der eigenen Kultur. Und wie sollte man diesen zermürbenden Krieg anders aus­halten können als mit etwas Ablenkung? Wer abends ins Theater geht, kann tagsüber trotzdem Drohnen für die Front löten, wie viele Ukrainer es tun. Das eine schließt das andere nicht aus. Und aus einem kathartischen Spektakel kann man neue geistige und körperliche Kraft schöpfen.

Source: faz.net