Luftraumverletzungen: „Moskau profitiert durch die Demütigung jener North Atlantic Treaty Organization“
Herr Reisner, nach dem Vorfall im estnischen Luftraum gibt es in Europa Diskussionen über die richtige Reaktion auf russische Provokationen. Welche Möglichkeiten hat die NATO denn? Muss man sich im Ernstfall wirklich zwischen Abwarten und Abschuss entscheiden?
Da gibt es verschiedene Eskalationsstufen: Die erste beginnt bereits bei der Erfassung durch die Flugabwehr oder durch ein gegnerisches Kampfflugzeug. Als Pilot im Kampfflugzeug werden Sie gewarnt, wenn Sie von einem Radar „beleuchtet“, also erfasst werden. Dafür muss die Luftraumüberwachung aber engmaschig und weitreichend sein. Der Pilot erfährt über seine Instrumente, dass er bemerkt wurde. Und der Pilot weiß dann noch nicht, ob man ihn auch abschießen will. Er muss reagieren. Im Falle der MiG-31, die am Freitag in den estnischen Luftraum geflogen sind, ist die Erkennung einfacher als zum Beispiel bei kleinen Drohnen.
Im nächsten Schritt kann die NATO ihrerseits Kampfflugzeuge aufsteigen lassen. Diese nähern sich dann bis auf Sichtweite dem russischen Flugzeug. Das wäre für einen Abschuss nicht nötig, der moderne Luftkampf wird über Distanzen von über 100 Kilometern ausgefochten. Es ist also eher eine Geste. Nach dem Heranfliegen wird das russische Flugzeug abgefangen und im Optimalfall aus dem Luftraum eskortiert.
Wenn das nicht ausreicht, könnte man riskantere Flugmanöver ausprobieren. Man kann das Flugzeug durch nahes Heranfliegen abdrängen, wir haben in den vergangenen Jahren von russischer Seite auch immer wieder das Ablassen von Treibstoff beobachtet.
Gibt es dann noch eine letzte Vorstufe vor einem Abschuss der Maschine?
Auch mit dem Kampfflugzeug haben Sie die Möglichkeit, in die Luft zu schießen, natürlich nicht mit Raketen, sondern etwa mit der Bordkanone. Das entspräche dann dem Warnschuss durch die Polizei.

Derzeit wird oft auf den Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs durch das NATO-Mitglied Türkei im Jahr 2015 verwiesen. Was kann man daraus lernen?
Auch damals kam dieser Abschuss nicht aus heiterem Himmel. Es gab zuvor mehrere Aufforderungen Ankaras an Moskau, im Zuge der russischen Luftkampagne in Syrien nicht den türkischen Luftraum zu verletzen. Das wurde von Russland ignoriert. In der Folge änderte die Türkei ihre „Rules of Engagement“ – eigenständig, ohne eine Einigung der NATO abzuwarten. Die Türkei hatte den Anspruch, den eigenen regionalen Machtanspruch durchzusetzen.
Der russische Überflug vor Estland erfolgte offenbar eng an den Grenzen zum internationalen Luftraum. Was hat Russland von einem solchen Vorgehen? Der militärische Nutzen dürfte begrenzt sein.
Das darf man nicht als einzelnes Ereignis betrachten, sondern muss es im Kontext der russischen Drohnen in Polen, des Überflugs einer polnischen Bohrinsel und auch der Cyberangriffe auf europäische Flughäfen sehen. Moskau hat dadurch mehrere Vorteile. Zum einen profitiert man durch die Demütigung der NATO. Man kann auch dem heimischen Publikum demonstrieren: Seht her, unsere Luftwaffe spielt Katz und Maus mit der NATO, wir machen, was wir wollen. Darüber hinaus lenkt man von eigenen Niederlagen in der Ukraine ab: Die fortgesetzten Angriffe auf Raffinerien machen Moskau zu schaffen. Außerdem hat man an der Front in diesem Sommer keinen Durchbruch erzielt und keine nennenswerten Städte erobert. Keiner spricht mehr darüber.
Es ist also im russischen Interesse, dass die europäischen Unterstützer der Ukraine vor allem über ihre eigene Abwehrfähigkeit nachdenken. Moskau will dem Westen die Verletzlichkeit vor Augen führen. Russland hat einen Vorteil, wenn die Länder Lieferungen an die Ukraine zugunsten ihrer eigenen Verteidigung zurückstellen. Und in diese Richtung entwickelt sich nach derartigen Vorfällen die Diskussion.
Sind solche Luftraumverletzungen denn überhaupt ein neues Phänomen? Oder blicken wir nach dem russischen Drohnenangriff auf Polen nur mit besonderer Aufmerksamkeit darauf?
Die baltischen Staaten haben keine eigenen potenten Luftstreitkräfte. Die Luftraumüberwachung übernehmen seit 2004 abwechselnd NATO-Partner, schon lange vor dem Beginn der „Operation Eastern Sentry“. Deshalb kommt es seit Jahren immer wieder zu Begegnungen, auch zum Abfangen russischer Kampfflugzeuge.
Anders als in Nenas Song haben Flugzeugabschüsse im Übrigen auch während des Kalten Krieges nicht zu einem dritten Weltkrieg geführt. In der Anfangsphase der Blockkonfrontation waren diese nicht unüblich. Das nahm erst in den Siebzigerjahren ein Ende.
Was kann die NATO tun, um solche Vorfälle künftig zu verhindern?
Zunächst kann man die eigene Einsatzbereitschaft weiter erhöhen. Letztlich braucht es aber klare Handlungsanweisungen für einen Fall wie diesen. Niemand weiß, wann die Russen das nächste Mal ein solches Manöver starten. Und welches NATO-Land dann gerade für die Luftraumüberwachung im Baltikum zuständig ist. Der jeweilige Pilot im Kampfflugzeug kann keine selbständige Entscheidung treffen. Für einen möglichen Abschuss braucht es politische Rückendeckung.
Dadurch entsteht ein Dilemma: Wenn man die Entscheidung trifft, russische Kampfflugzeuge künftig abzuschießen, muss man ins Risiko gehen. Denn wir wissen nicht, wie Russland darauf reagieren würde. Möglich sind weitere Operationen im Graubereich, wie etwa Cyberangriffe. Es heißt nun Besonnenheit und Nerven zu bewahren.
Source: faz.net