Nein, wir werden nicht leiser!
„Liebe LGBTQ – geht es ein wenig leiser?“, schrieb Jacques Schuster, Chefredakteur der WELT AM SONNTAG – und kritisierte, „in welcher Wucht man täglich mit LGBTQ-Themen belämmert wird“. Eine Gegenrede.
Wer darum bittet, dass wir „leiser“ werden, verwechselt Ruhe mit Frieden. Minderheiten haben nie aus Bequemlichkeit laut gesprochen, sondern aus Notwehr. Und wir müssen keine Atlantiküberquerung bemühen: In Deutschland blieb der Paragraf 175 bis 1994 in Kraft – erst dann wurde er endgültig gestrichen. Die Erinnerung daran, dass unsere Liebe hierzulande bis gestern strafbar war, ist näher, als vielen lieb ist.
„Nichts klingt in den Ohren des Autors so schrill wie das Schweigen der Kritik“, schrieb einst Marcel Reich-Ranicki. Wer die Lautstärke bemängelt, sollte sich fragen, was ihn wirklich stört: der Ton – oder die Tatsache, dass wir endlich gehört werden.
Jacques Schuster schreibt in der WELT AM SONNTAG, die „Wucht“ queerer Themen sei „kaum noch auszuhalten“, und schlägt sogar vor, „LGBTQ“ zum Unwort zu erklären. Sprache ist ein Seismograf: Wer das Wort delegitimiert, delegitimiert die Menschen dahinter.
Und hier beginnt der blinde Fleck. In den Laboren der Unfreiheit galten die ersten Stöße stets denen, die anders lieben. 1933 plünderten und zerstörten SA‐Trupps Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft – ein Menetekel. In Putins Kommandostaat wurden „LGBT-Propaganda“ und zuletzt sogar die „internationale LGBT-Bewegung“ per Gericht zur „Extremismus“-Chiffre erklärt – das Wort selbst wird kriminalisiert, bevor Menschen verschwinden. Unsere Existenz ist der Lackmustest der Freiheit: Wo ein Wort verboten wird, werden bald Menschen verbannt – heute die Silbe, morgen der Satz, übermorgen das Recht.
Ausgerechnet Schusters eigener Herausgeber Ulf Poschardt hat in seinem Artikel „Vom Schmerz der Modernisierung“ daran erinnert, dass es „Grenzen“ gibt, eine „Basis des Anstands und der Genauigkeit“. Er warnt vor der alten Unsitte, Homosexualität mit Missbrauch zu vermengen, einfachen Botschaften zu folgen. Das sind Leitplanken – nicht nur fürs Haus, sondern für die Debatte.
Die Mehrheitsfrage
Die Realität ist eindeutig: Das BKA meldet für das Jahr 2023 insgesamt 1785 queerfeindliche Straftaten – ein Plus von rund 50 Prozent gegenüber 2022. Wer angesichts solcher Zahlen fordert, „leiser“ zu sein, verwechselt Ursache und Wirkung. Laut sind nicht die Opfer, laut ist die Gewalt.
„Aber die Mehrheit!“ – ruft Schuster. Ja, die Mehrheit ist groß. In Deutschland unterstützen 78 Prozent einen Schutz vor Diskriminierung für Lesben, Schwule und Bi-Menschen, 75 Prozent für Trans-Personen; 71 Prozent befürworten die Ehe, 74 Prozent gleiche Adoptionsrechte. Deutschland leidet nicht unter Sichtbarkeit – es wählt den Fortschritt. Schusters 88-Prozent-Rechnung taugt nicht als Maulkorb. Gleichzeitig zeigt die EU-Grundrechteagentur: Diskriminierung bleibt verbreitet, Gewalt nimmt zu. Wer „zu laut“ sagt, verwechselt Empfindlichkeit mit Empathie.
Schuster spottet über „Missionare“ und „grammatikalischen Firlefanz“. Das ist literarisch gewitzt – und politisch bequem. Öffentlichkeit ist kein Nullsummenspiel. Wenn Vorabendserien Familien diverser zeigen, verliert niemand Geborgenheit. Für junge queere Menschen sind Vorbilder keine Deko, sondern Rettungsringe: Studien zeigen, dass Sichtbarkeit und affirmierende Räume Selbstakzeptanz stärken und Risiken senken. Repräsentation ist kein Lärm, sie ist eine Korrektur jahrzehntelanger Verstummung.
Bleiben wir bei den Regeln, die Poschardt formuliert: „Es macht einen erheblichen Unterschied“, ob man „einen großen und starken Apparat kritisiert“ – oder Gruppen, „die nicht selbst die Macht haben“. Schusters Stück aber arbeitet nicht mit These und Antithese, sondern mit Behauptung und Behagen: Es behauptet Überdruss – und verweigert den Beleg. Eine Zeitung, die „radikale Vielfalt“ verspricht, darf Minderheiten nicht erst abwerten und anschließend um Ruhe bitten. Sie muss präzise sein – und zuhören.
Und weil Präzision zählt, noch dies: Dass sich eine nicht kleine Minderheit offen zur LGBTQ-Community rechnet – insbesondere in jüngeren Kohorten – ist keine Mode, sondern Ausdruck von Freiheit. Sichtbarkeit macht nicht queer; sie macht ehrlich.
Am Ende geht es nicht um Dezibel, sondern um Würde. Wir werden nicht leiser, solange Zahlen steigen, die nicht steigen dürften; nicht leiser, solange ein erheblicher Teil Diskriminierung erfährt; nicht leiser, solange Meinungsbeiträge ohne saubere Argumentprobe daherkommen. Leiser werden – das war gestern. Heute werden wir präziser. Hartnäckiger. Und so lange laut, bis Ruhe nicht Verdrängung bedeutet, sondern Sicherheit. In diesem Sinne: Nie wieder still. Nie wieder!
Philipp Kaste ist Mitglied des Teams der Axel Springer Queerseite.
Source: welt.de