Scharf offline: 1920 will die Mehrheit eines USPD-Parteitages in die III. Internationale
Die Novemberrevolution ist gescheitert, der Versailler Vertrag in Kraft getreten, der Kapp-Putsch von ultrarechts wird im März 1920 durch reichsweite Massenstreiks beendet, die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) werden bei den Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 mit 81 Mandaten hinter der SPD (112) zweitstärkste Partei. Die „Weimarer Koalition“ aus Sozialdemokraten, Linksliberalen und Zentrum ist am Ende.
In diesem politisch turbulenten, unsicheren Jahr hält die USPD vor gut 105 Jahren im Halleschen Volkspark einen Sonderparteitag ab. Sie gilt als die damals „größte und bedeutendste revolutionäre Arbeiterorganisation außerhalb Sowjetrusslands … seit der Revolution, fraglos der dynamischste Faktor ihrer Zeit“, so der US-Historiker Robert F. Wheeler. Der einzige Tagesordnungspunkt dieses Kongresses lautet: Beitritt der USPD zur III. Internationale, der von den Bolschewiki beherrschten Komintern (KI).
Am 16. Oktober 1920 spätnachmittags verkündet Otto Braß, Vorsitzender des Parteitagspräsidiums, das Abstimmungsergebnis: „236 Delegierte stimmten mit Ja, 156 Delegierte mit Nein.“ Alle im Saal wissen, das bedeutet die Spaltung der USPD. Laut Parteitagsprotokoll verlassen die Delegierten der Rechten unter Zurufen und Pfiffen von der Tribüne den Saal, die Linken singen die Internationale.
Nach der Abstimmung wird dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees der Komintern, Grigori Sinowjew (1883 – 1936), das Wort erteilt: „Genossen, wenn von der Arbeiterklasse ein Teil der bürgerlichen Elemente weggeht, so ist eine solche Spaltung nützlich für die Arbeiterklasse … Ihr seid jetzt Mitglieder der gesamten internationalen Arbeiterklasse, ihr seid Teil der Kommunistischen Internationale, und das soll unser allergrößter Stolz sein. Es lebe die USPD, wie sie jetzt in einer wirklich kommunistischen Partei dem Proletariat vorangeht.“ Das Protokoll verzeichnet Bravorufe: „Hoch! Hoch! Hoch!“
Sinowjew, ein enger Vertrauter Lenins, ist nach Halle geschickt worden, um die von Moskau betriebene Spaltung der USPD zum Abschluss zu bringen. Dadurch sollte die damals noch völlig unbedeutende, aber moskautreue KPD gestärkt werden, so das Kalkül – und es scheint aufzugehen. Vieles spricht dafür, dass der später so genannte „Hallenser Spaltungsparteitag“ eine Inszenierung der Bolschewiki war.
In seiner Schrift Zwölf Tage in Deutschland, einer Art politischem Tagebuch seiner Reise, schreibt Sinowjew: „In Stettin empfangen uns deutsche Genossen: der Vorsitzende des Verbandes der Seeleute, ein Anarcho-Kommunist, Genossen aus der Kommunistischen Partei Deutschlands und Kurt Geyer, Vertreter des linken Flügels der Unabhängigen Partei. Die erste Frage, die wir an Kurt Geyer richten, lautet: ‚Wer hat die Mehrheit auf dem Parteitag, wir oder sie, die Linken oder die Rechten?‘ – ‚Wir haben die Mehrheit‘, antwortet Genosse Geyer, ‚unsere Fraktion steht felsenfest‘. Diese Nachricht stimmte uns von vornherein optimistisch“, so der Autor.
„Parteitag der Klärung“
Zur Sitzordnung im Großen Saal des Volksparks in Halle notiert der Emissär der Bolschewiki: „Also, wir sind auf dem Schlachtfelde. Der Sitzungssaal ist in zwei scharf getrennte Hälften geteilt, als wenn ihn jemand mit einem scharfen Messer entzweigeschnitten hätte. In einem Raum sind zwei Parteien … auf der Konferenz selbst gibt es nur noch zwei unversöhnliche Feinde: ‚Die Linke‘, die für den Anschluss, und ‚die Rechte‘, die dagegen ist, sitzen strikt getrennt.“ Die USPD war längst gespalten, in Halle ging es nur noch darum, dies formal zu besiegeln.
Der USPD-Parteivorsitzende Artur Crispien (1875 – 1946) hatte den Parteitag mit den Worten eröffnet: „Genossinnen und Genossen! Es muss die Aufgabe des klassenbewussten Proletariats aller Länder sein, dem Kapitalismus die politische Macht zu entreißen und eine starke internationale proletarische Macht zu errichten, um die Menschheit durch die Verwirklichung des Sozialismus zu einer höheren Kulturstufe zu führen. Daran erkennen wir, dass die Notwendigkeit einer proletarischen Internationale wächst, und wir müssen zu dieser Frage Stellung nehmen.“
Vier Tage lang streiten die gut 400 Delegierten – sie haben sich zuvor in einer Urwahl als Befürworter oder Gegner eines Beitritts zur Komintern festgelegt – in Halle über nichts anderes. In Grundsatzfragen wie Parlament und Räte, Demokratie und Diktatur, Enteignung von Banken und Schwerindustrie oder Putsch und Gewalt lassen sich in der USPD trotz oft konträrer Positionen Kompromisse finden – über das Verhältnis zur III. Internationale offenbar nicht. Die Weltrevolution und deren organisatorische Voraussetzung, eine Internationale des Klassenkampfes, hatte für die USPD seit der niedergeschlagenen Novemberrevolution oberste Priorität. „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, das war der drängende Imperativ für die gesamte Partei. Der Streit ging darum, ob die Komintern diese Internationale wäre.
In Leipzig, auf dem „Parteitag der Klärung“, hatte man sich im Dezember 1919 mit der Formulierung: „Die USPD … erstrebt die Schaffung einer revolutionären aktionsfähigen Internationale der Arbeiter aller Länder“ noch auf eine Kompromissformel geeinigt, ohne dass damit zwingend die Moskauer Internationale gemeint war. Genau auf diese Festlegung aber drängten die Bolschewiki. Vor dem Parteitag in Halle hatte der II. Weltkongress der Komintern auf Betreiben Wladimir Iljitsch Lenins (1870 – 1924) am 6.
August 1920 den Beschluss über die „21 Aufnahmebedingungen“ zur Internationale angenommen. Unter Punkt 1 wurde verlangt, dass die tagtägliche Propaganda und Agitation „wirklich kommunistischen Charakter tragen“ müsse. Bedingung 14 reklamierte „periodische Säuberungen“ der KI-Parteien, „um alle kleinbürgerlichen Elemente zu entfernen“. Punkt 17 sah vor, „alle Resolutionen der Kommunistischen Internationale als bindend anzuerkennen“. Das leninsche Prinzip des demokratischen Zentralismus hielt sich an autoritäre Vorstellungen von Partei und Revolution, die der rätedemokratischen Tradition eines Großteils der USPD-Mitglieder widersprachen.
Warum sich die USPD – seit ihrer Gründung 1917 mehr eine dezentrale, freiheitliche, sozialevolutionäre Bewegung unterschiedlicher politischer Strömungen – in Halle doch für einen Beitritt zur Komintern entschloss, bleibt historisch letztendlich ungeklärt. Offenbar galt drei Jahre nach der Oktoberrevolution immer noch der auch unter vielen linken Intellektuellen verbreitete Glaube‚ von der Oktoberrevolution und den Bolschewiki lernen, heiße, über den Kapitalismus siegen lernen. Zudem gab es die Überzeugung, dass die Weltrevolution unmittelbar bevorstehe.
Vorstoß geglückt
Nach der Entscheidung von Halle vereinigt sich Anfang Dezember 1920 der größere Teil des linken Flügels der USPD mit der KPD zur VKPD, was dazu führt, dass deren Mitgliederzahl von 78.715 auf etwa 450.000 steigt. Die Fraktion der Verweigerer besteht noch zwei Jahre als USPD und geht 1922 wieder in der SPD auf. Durch diese Spaltung verliert die revolutionäre Arbeiterbewegung aus KPD und USPD mindestens 180.000 Personen oder ein Fünftel ihrer Anhänger. Grigori Sinowjew hingegen triumphiert: „Der Vorstoß der Kommunistischen Internationale in Westeuropa ist vollständig geglückt.
Der Zweikampf zwischen den Vertretern des Kommunismus und des Reformismus ist zu unseren Gunsten ausgelaufen.“ Die letzten Mohikaner des Opportunismus seien im Kampf der Geister erlegen. Noch immer gehe durch „die ganze europäische bürgerlich-weißgardistische und sozialdemokratische Presse das heisere Gebell der bürgerlichen Köter gegen die Kommunistische Internationale. Mögen sie bellen!“ Unter den Fahnen der Internationale werde die Arbeiterklasse der ganzen Welt siegen.
Sinowjews verächtlicher Sarkasmus erlaubte einen Vorgeschmack auf die Jahre ab 1928, in denen Sozialdemokraten für die moskauhörige KPD nur noch „Sozialfaschisten“ sind, die es zu bekämpfen gilt – härter als den Klassenfeind. Die sich 1920 in Halle spaltende deutsche Arbeiterbewegung macht einen Sieg des Faschismus wahrscheinlicher. Die Vorgeschichte dazu beginnt 1914 mit dem Ja der SPD zu den Kriegskrediten und ihrer Burgfriedenspolitik, die den Boden bereitet für die Gründung der USPD drei Jahre später. 1920 schließlich führt der Parteitag in Halle dazu, dass die Arbeiterbewegung an Schlagkraft verliert.