Opposition in welcher Türkei: „Das sind politische Prozesse“

Seit Monaten erhöht der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan den Druck auf die Opposition im Land. Eine Gerichtsverhandlung gegen die Oppositionspartei CHP am Montag könnte das Ende des politischen Wettbewerbs im Land bedeuten, sagt die Politikwissenschaftlerin Sinem Adar im Interview über die Lage in der Türkei. Adar ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für angewandte Türkeistudien der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Ihre Schwerpunkte liegen auf dem politischen System der Türkei und dessen Auswirkungen auf die Außen- und Sicherheitspolitik des Landes.

DIE ZEIT: Frau Adar, in den letzten Tagen sehen wir in der Türkei wieder Demonstrationen auf den Straßen, hauptsächlich in Istanbul, aber auch in anderen Städten des Landes. Organisiert werden sie von der CHP, der größten Oppositionspartei. Was ist passiert?

Sinem Adar: Die Proteste wurden durch eine Gerichtsentscheidung in Istanbul ausgelöst, die das Wahlergebnis eines Parteitags des Istanbuler Ortsverbands der CHP für ungültig erklärte. Das Gericht ordnete an, dass ein Treuhänder der Regierung die Führung der Partei in Istanbul ersetzt.

ZEIT: Die Entscheidung des Gerichts löste auch deshalb so starke Reaktionen aus, weil viele Beobachter darin eine Art Testlauf sehen, für das, was noch folgen wird.

Adar: Das Urteil ist Teil einer Reihe von Gerichtsverfahren, die sich gegen Ekrem İmamoğlu, den Bürgermeister von Istanbul, richten, aber auch gegen den derzeitigen Parteivorsitzenden der CHP, Özgür Özel, gegen andere Bürgermeister in Adana oder Antalya. Und dazu kommen jetzt eben die Verfahren wegen der Parteitage. Das Urteil in Istanbul war ein möglicher Vorläufer dessen, was am Montag passieren könnte.

ZEIT: Was geschieht am Montag?

Adar: Vor einem Zivilgericht in Ankara geht es am Montag um die Annullierung der Parteitagswahlen auf nationaler Ebene, bei denen der aktuelle CHP-Vorsitzende Özgür Ozel ins Amt gewählt wurde. Das Gericht in Ankara wird am Montag wahrscheinlich ein ähnliches Urteil fällen wie in Istanbul und sagen: Okay, die Wahl auf dem Parteitag war wegen Unregelmäßigkeiten ungültig. Das würde dann den Weg für die Ernennung eines Treuhänders für die größte Oppositionspartei des Landes ebnen.

Wir sehen hier eine Übereinstimmung der Interessen der Eliten.

Sinem Adar

ZEIT: Als möglicher Treuhänder wurde der ehemalige CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu genannt, der noch 2023 bei der Präsidentschaftswahl gegen Staatspräsident Erdoğan antrat – und verlor. Auch der Treuhänder für den Istanbuler Ortsverband, Gürsel Tekin, ist ein alter CHP-Funktionär. Warum stellen sich diese Männer jetzt gegen ihre eigene Parteiführung und arbeiten mit Erdoğan zusammen?

Adar: Wir sehen hier eine Übereinstimmung der Interessen der Eliten. Einerseits geht es um das Überleben des Regimes, andererseits um die Interessen einer Gruppe innerhalb der CHP, die Kontrolle über das Eigentum und die Führung der Partei zurückzugewinnen will. Die Entscheidung von Kılıçdaroğlu und Tekin könnte auf der Annahme beruhen, dass das Regime von Erdoğan nicht mehr verschwinden wird. Es scheint, dass die Sicherung ihrer eigenen Position innerhalb der Partei und damit der Zugang zu Ressourcen zur Priorität geworden sind. Diese Logik ähnelt in gewisser Weise dem, was wir im aktuellen System auf staatlicher Ebene schon seit Jahren beobachten.