Biergartensaison | Deutschland im Vollsuff: Wird sich Nina Warken endlich mit jener Alkohol-Lobby aufbauen?
Neun Millionen Deutsche pflegen bei promillehaltigen Getränken einen „problematischen Konsum“. Wird die neue Gesundheitsministerin Nina Warken daran etwas ändern? Dafür müsste sie den Konflikt mit einer mächtigen Branche suchen
Im Jahr 2024 gaben die Deutschen knapp 53 Milliarden Euro für Alkohol aus
Foto: Jannis Chavakis/Imago
Sucht man nach einem Synonym für „Biergarten“, das nichts Alkoholisches enthält, bietet einem das Internet „Gartenlokal“ an. Dort gemütlich zu sitzen, kann ich mir aber – Hand aufs Herz – auch nur mit einem feinherben Riesling vorstellen. Es ist leider so: Die Europäer trinken im internationalen Vergleich allzu gern. Wir Deutsche trinken viel zu gern. Deutschland hat ein gar nicht so kleines Alkoholproblem. Im Jahr 2024 ließen wir uns für knapp 53 Milliarden Euro ein- und nachschenken.
Alkohol ist ein Wirtschaftsfaktor, nur eingepreist sind nicht die volkswirtschaftlichen Probleme, die durch ihn verursacht werden. Etwa drei Millionen Menschen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren sollen laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) eine „alkoholbezogene Störung“ haben. Fast acht Millionen Personen konsumieren Alkohol in einer „gesundheitlich riskanten Form“, neun Millionen pflegen einen „problematischen Konsum“. Vor Kurzem starb der TV-Star der 1990er Nadja „Naddel“ Abd el Farrag mit nur 60 Jahren. Eine äußerst sympathische Frau. Sie litt an einer Leberzirrhose. Ihr Alkoholproblem hatte sie offen thematisiert.
Man kann sich die Kosten ausrechnen und angesichts dieser Zahlen dürften sich selbst sogenannte Genusstrinker unangenehm angesprochen, mitunter in ihrer Lebensweise angegriffen fühlen. Lange Jahre soffen Männer viermal so viel, aber Frauen holen inzwischen kräftig auf. Dass das Problembewusstsein dafür schwächelt, ist absolut verständlich, Politik selbst scheint null Promille davon zu besitzen.
Vor zehn Jahren wurde die Arbeitsgruppe „Alkoholkonsum reduzieren“ im Zuge des verabschiedeten Präventionsgesetzes gegründet. Erreicht wurde nichts, 2017 wurde sie wieder abgeschafft, vor allem, „weil die Alkohollobby dafür sorgte, dass Empfehlungen, die zu einer strengeren Alkoholpolitik geführt hätten, bis zur Unkenntlichkeit verwässert wurden“, schreibt die Nüchternheits-Aktivistin Nathalie Stüben auf ihrer Website. 2022 hatte die Linke eine Kleine Anfrage an die aktuelle Bundesregierung gestellt: „Maßnahmen der Bundesregierung zur Reduktion des Alkoholkonsums und Lobbyismus der Alkoholindustrie“.
WHO: Es gibt keine gesundheitlich unbedenkliche Menge Alkohol
Es zeigt sich, so Stüben, der Terminkalender von Regierungsvertretern und Alkohollobbyisten ist dreimal so gut gefüllt im Vergleich zu Institutionen für Suchthilfe und Prävention. „Alkohol wird in Deutschland nicht nur toleriert, sondern sogar hofiert“, bestätigt der internationale Suchtforscher Jürgen Rehm. Ob die neue Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) Deutschlands Promilleproblem endlich zum Topthema macht? Unwahrscheinlich. Neulich hatte die Heute Show Fotos von Warken ausgekramt, die eine auffallend trinkfreudige Gesundheitsministerin zeigen. Dabei hätte sie viel zu tun, denn Steuern auf Alkohol sind viel zu niedrig, es bräuchte Warnhinweise auf Alkohol. Es braucht ein radikal anderes Mindset als deutsches „Hoch-die-Tassen“.
Vor zwei Jahren verkündete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unmissverständlich, dass es beim Alkoholverzehr keine gesundheitlich unbedenkliche Menge gibt. Und trotzdem kommt jede Biergartensaison mit einer „neuen“ Studie daher, die Gesundes über Alkohol berichtet. So wollen Wissenschaftler aus Singapur jüngst herausgefunden haben, dass Champagner die Risiken für einen plötzlichen Herzinfarkt senkt, der hierzulande die häufigste Todesursache ist. Schampus. Man glaubt es ja sofort. Will es glauben.
Alkohol konditioniert das Gehirn und „handgerüttelt“ klingt einfach richtig gesund. Ein ähnlicher Artikel des Focus aus dem Jahr 2014 bestätigt: „Das prickelnde Getränk verbessert die Gefäßfunktion und ist eine Wohltat fürs Herz“. So weit, so neu. Fast überraschend war aber, dass die Forscher fanden, dass eine insgesamt gesunde Lebensweise zusätzlich risikomindernd wirke. Zum Beispiel mehr Obst zu essen, schlank zu bleiben und eine positive Lebenseinstellung zu haben. Was ja mit einem Champagner für derzeit 17,99 Euro von Aldi und dazu Erdbeeren im Angebot keine Frage des Preises wäre.
Pro Kopf liegen die Deutschen im Jahr 2025 leicht über dem europäischen Durchschnitt mit 10,6 Litern Reinalkohol. Immerhin wächst der Markt für alkoholfreies Bier stetig, immer mehr Winzer experimentieren mit alkoholfreiem Wein. Entalkoholisierter Wein ist übrigens nicht nur überteuerter Traubensaft. Ihm wird lediglich der Alkohol entzogen. Weshalb hier mein Herz weiter für den Winzer schlägt.