„Unsere Jungs“: Streit um Ausstellung zu polnischen Zwangsrekruten in dieser Wehrmacht
Zwei fast identische Familienfotos zeigen dieselben drei Personen: eine Frau mit kurzen Haaren, ein Mädchen im gestreiften Kleid und einen Mann in Uniform. Der einzige Unterschied zwischen den gut erhaltenen, sepiafarbenen Bildern ist, dass der Mann auf dem einen Bild eine Uniform der deutschen Wehrmacht trägt, während das zweite Bild verändert wurde, um seinen Kriegsdienst zu verstecken.
Diese Bilder, die dem Muzeum Gdańska vom Sohn des Mädchens im gestreiften Kleid überlassen wurden, sind Teil einer neuen Ausstellung über die Massenrekrutierung von Pommern in die deutsche Armee im Zweiten Weltkrieg. Unter dem Titel „Nasi chłopcy“ („Unsere Jungs“) zeigt die Ausstellung im früheren Danziger Rathaus Fotoalben, Familien-Erbstücke und Zeitzeugenaussagen von Polen, die in der Wehrmacht gedient haben.
Ist es möglich, gleichzeitig Opfer und Soldat für den Aggressor zu sein?
Die Ausstellung stellt die Frage, ob es möglich ist, gleichzeitig Opfer und Soldat für den Aggressor zu sein, und vertritt die Auffassung, dass eine Auseinandersetzung mit diesem komplexen Sachverhalt wichtig für die nationale Identität in Polen sei. Nicht überraschend hat sich die Schau im Land als höchst umstritten erwiesen.
Nach der deutschen Invasion im September 1939 gliederten die Nationalsozialisten einige polnische Gebiete wie Pommern, Schlesien und Großpolen direkt ins „Reich“ ein. Die Einwohner dieser Regionen wurden in der Deutschen Volksliste registriert, die die Einwohner besetzter Gebiete klassifizierte. Für Männer im wehrpflichtigen Alter bedeutete das häufig, dass sie zum Dienst in der Wehrmacht verpflichtet wurden. Wer den Kriegsdienst verweigerte, desertierte oder versuchte, sich der polnischen Armee oder Partisanengruppen anzuschließen, wurde zum Tode verurteilt oder ins Konzentrationslager gebracht.
Nach Schätzungen von Historikern dienten zwischen 400.000 und 450.000 Bürger der Zweiten Polnischen Republik in der Wehrmacht, mehr als in der polnischen Heimatarmee, der wichtigsten Widerstandsbewegung im von Deutschland besetzten Polen. Das Gdańsk-Museum vertritt die Auffassung, dass diese schmerzhafte Realität anerkannt werden muss, um eine aufrichtigere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu ermöglichen.
PiS-Chef Jarosław Kaczyński und Ex-Präsident Andrzej Duda kritisieren die Ausstellung
Aber es handelt sich um eine Realität, die nicht alle in der dargestellten Form akzeptieren wollen. Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der rechten PiS-Partei, vertrat auf X die Meinung, Unsere Jungs verwische die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und schreibe sie sogar teilweise den Polen zu. Polens früherer Präsident Andrzej Duda bezeichnete die Darstellung der eingezogenen Polen als „unsere“ als moralische Provokation, unabhängig von der Tatsache, dass ihr Kriegsdienst erzwungen war.
Placeholder image-1
Vor dem Museum fanden mehrere Protestaktionen statt, die mit der PiS-Partei in Verbindung standen. Die Kritiker werfen der Ausstellung Geschichtsklitterung vor und die Linie zwischen Opfer und Täter zu verwischen. Sie stören sich an dem zweideutigen Titel, der eine Bezeichnung aufnimmt, die für Luxemburger in ähnlichen Situationen verwendet wird („ons jongen“).
Auch das Museum des Warschauer Aufstandes, das dem Aufstand gegen die deutschen Besatzer im Jahr 1944 gewidmet ist, schaltete sich in die Debatte ein. Einige Tage nach der Eröffnung der Ausstellung in Danzig postete es auf seinem Facebook-Profil ein Bild von Aufständischen im Teenager-Alter mit der Unterschrift: „Unsere Jungs“. Daraufhin brach eine hitzige Diskussion darüber aus, was „unsere“ für verschiedene Leute bedeutet.
Der Leihgeber der Fotos fürchtet um die Sicherheit seiner Mutter
Andreas Kasperski, der dem Museum die beiden anfangs erwähnten Fotos überlassen hat, fürchtete angesichts der Kritik an der Ausstellung um die Sicherheit seiner Mutter. „Ich bekam Angst, dass sie bei einem Ausstellungsbesuch auf jemanden mit extrem patriotischen, konfrontativen Ansichten treffen könnte“, erzählt er. „Bis vor einem Jahr wäre mir das nicht in den Sinn gekommen.“
Das Museum selbst wehrte sich gegen die Kritik. „Wir sind gegen unfaire und oberflächliche Urteile“, heißt es in einem Statement. „Wir bedauern, dass die Ausstellung für einzelne politische Zwecke benutzt wird.“ Mit dem Titel „Unsere Jungs“ habe man auf die Herkunft der Männer aus polnischen Orten hinweisen, nicht sie glorifizieren wollen.
Unterstützung erhielt das Museum vom Kaschubisch-Pommerschen Verein, der in einer Erklärung vermutete, dass viele Kritiker „mit den damaligen Lebensrealitäten in den annektierten Regionen Pommern, Kaschubei und Kociewie nicht vertraut sind“. Der Verein hält die Ausstellung für notwendig, weil sie „das komplexe Schicksal der Bewohner aufzeigt, die seit Jahren in der offiziellen Erinnerungspolitik marginalisiert werden“.
„Innerhalb der Familien ist es kein Geheimnis“, sagt der Kurator von „Unsere Jungs“
Roman Rakowski, ein ehemaliger Kommandant der polnischen Marine und Mitglied der paramilitärischen Grauen Reihen, der vergangenes Jahr 100 Jahre alt wurde, reagierte auf die hitzige Debatte mit einem offenen Brief an das Museum. Darin weist er auf die harte Unterdrückung und Vertreibung in Pommern hin und ruft zur Erinnerung an die auf, die gezwungen wurden, schwere Entscheidungen zu treffen. „Das waren unsere Jungs, die Jungs von Familien, die gezwungen wurden, in die feindliche Armee einzutreten, um ihre Lieben zu retten“, schrieb er. „Es ist einfacher, darüber zu urteilen, als solcher Gefahr ins Auge zu sehen.“
Placeholder image-2
Laut dem Kurator der Ausstellung Unsere Jungs, Andrzej Hoja, ist dieses komplexe Kapitel von Polens Kriegsgeschichte in Pommern weithin akzeptiert. Dagegen sei es schwierig gewesen, den persönlichen Geschichten auf nationaler Ebene Gehör zu verschaffen, da die Existenz der Deutschen Volksliste nicht allgemein bekannt ist und im nationalen Schullehrplan nur eine marginale Rolle spielt. „Auf der familiären Ebene ist es kein Geheimnis“, sagt er. „Viele haben Bilder aus der Zeit aufgehoben, weil es die einzigen Fotos sind, die sie besitzen. In der nationalen Debatte kann man jedoch leicht zur Zielscheibe werden, wenn man einen Verwandten hat, der zwangsrekrutiert wurde. Während des Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2005 wurde bekannt, dass der Großvater von Donald Tusk in der deutschen Wehrmacht gedient hatte. Tusk, der heute Polens Ministerpräsident ist, verlor damals prompt die Wahl.“
Für Cezary Obracht-Prondzyński, Geschichtsprofessor an der Universität Danzig, offenbart die Kontroverse um Unsere Jungs tiefgreifende Unterschiede in der Wahrnehmung von Identität in Polens Zentrum und den Grenzregionen. Diese Unterschiede haben ihre Wurzel in den Grenzveränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Friedensvertrag von Versailles.
Polnischsein zwischen Eindeutigkeit und Unsicherheit
In Städten wie Warschau, Krakau und Lublin war die polnische Identität eindeutig: Polnisch war Hauptsprache und der Katholizismus vereinte die Menschen. Dort konzentrierte man sich, was die Geschichte angeht, auf Aufstände und den Widerstand gegen ausländische Unterdrücker. Gleichzeitig wurde eine scharfe Unterscheidung zwischen Einheimischen und Außenstehenden gemacht. Dagegen war in Regionen wie Schlesien, der Kaschubei, Warmia, Masuren und den östlichen Grenzgebieten die Lebensrealität gemischter. Die Leute sprachen mehrere Sprachen, praktizierten unterschiedliche Religionen und hatten häufig Familienmitglieder, die in unterschiedlichen Armeen gedient hatten. Außenstehende konnten trotzdem Nachbarn oder sogar Familienmitglieder sein.
Für die Menschen im „Kernland“ Polens war es leichter, einer einfachen Nationalgeschichte zu folgen: wir Polen gegen die Anderen. Die Leute in den Grenzregionen dagegen lebten schon immer mit mehr Zweideutigkeit und Unsicherheit. Polnischsein war in Warschau oder Krakau im 19. und 20. Jahrhundert geradlinig und klar, in den Grenzregionen dagegen komplex, fragil und verhandelbar. Nach dem Krieg aber ignorierte die dominante Narrative die Erfahrungswelt der Menschen in diesen Randgebieten.
„Haben wir ein Recht auf unsere Geschichte, unsere Erinnerung, auf Nuancen und Einzelheiten?“, fragt Obracht-Prondzyński. „Ohne Offenheit dafür besteht die Gefahr, dass sich durch einen beschränkten und gleichmachenden Ansatz gefährliche Muster der europäischen Vergangenheit wiederholen. Die in der Ausstellung angestoßene Diskussion sollte sowohl informieren als auch als Warnung dienen.“
Die Ausstellung Unsere Jungs ist noch bis zum 10. Mai 2026 im Gdańsk-Museum im ehemaligen Rathaus in der Danziger Innenstadt zu sehen