Fragwürdiges aus Iran: Wie kommt die „New York Times“ aufwärts 100 tote Transpersonen im Evin-Gefängnis?

Als Israel im Zuge des Zwölftagekriegs Iran bombardierte, wurde am 23. Juni auch das Evin-Gefängnis in Teheran angegriffen. Während die meisten Berichte davon sprachen, dass bei dem israelischen Angriff mindestens 71 Menschen zu Tode gekommen seien, schrieb die „New York Times“, darüber hinaus würden 100 inhaftierte Transpersonen seit dem Angriff vermisst, nachdem ihr Gefängnistrakt dem Erdboden gleichgemacht worden sei. Die iranischen Behörden gingen davon aus, dass sie nicht mehr am Leben seien. Nun legen Recherchen der „tageszeitung“ („taz“) nahe, dass diese Angaben nicht zutreffen könnten.
Am 6. Juli hatte die „New York Times“ einen Artikel über die israelische Bombardierung des berüchtigten Evin-Gefängnisses veröffentlicht, in dem politische Gefangene zahlreichen Berichten zufolge gefoltert und auch hingerichtet werden. In ihrem Text beziehen sich die Autoren zunächst auf Angaben der iranischen Regierung, wonach 79 Menschen ihr Leben verloren hätten. Dann ist die Rede von 100 Transgender-Häftlingen, die mutmaßlich ums Leben gekommen seien.
Menschenrechtsanwalt Shafakhah „außer sich“
Hundert tote Transgender-Personen? Diese Nachricht erregte die Aufmerksamkeit der „taz“, nachdem diese kritische Reaktionen auf einen eigenen Text erhalten hatte, der ebenfalls von dem israelischen Angriff auf das Evin-Gefängnis handelte: Der ehemalige Evin-Häftling Kamran Ghaderi hatte im Interview mit der „taz“ von der Bombardierung von Justizgebäuden, dem Geheimdiensttrakt und dem Eingangsbereich des Gefängnisses gesprochen. Den Trakt mit vermeintlich getöteten Transpersonen erwähnte er nicht. Kritiker verwiesen an dieser Stelle auf den Bericht der „New York Times“, den auch die deutsch- und englischsprachigen Wikipedia-Einträge zum Evin-Gefängnis aufgegriffen hatten. Die „taz“ beschloss, der Sache nachzugehen.
Der Autor Ali Sadrzadeh, früherer Nordafrika-Korrespondent der ARD und Iran-Experte des Hessischen Rundfunks, fragte für die „taz“ bei der einzigen Quelle nach, auf die sich die „New York Times“ mit der Behauptung, es seien mutmaßlich 100 Transpersonen ums Leben gekommen, bezog: dem Menschenrechtsanwalt Reza Shafakhah. Und siehe da: Dieser sei „außer sich“ gewesen und habe bestritten, die Aussage über 100 angeblich getötete inhaftierte Transpersonen getätigt zu haben. Er habe im Gespräch mit der „New York Times“ nur erzählt, dass Menschen nach dem Anschlag herumirrten und darunter wahrscheinlich auch Transpersonen gewesen seien. Die Autorin Farnaz Fassihi habe ihn an dieser Stelle unterbrochen und gefragt, wie viele Gefangene normalerweise in einem Trakt untergebracht würden, worauf er „100“ geantwortet habe. Shafakhah wirft Fassihi vor, sie habe den israelischen Berichten über die Bombardierung mit „etwas Sensationellem widersprechen“ wollen, „um mehr Aufmerksamkeit zu erreichen“. Nach journalistischen Gesichtspunkten würde man von einer „Ente“, also Falschmeldung, sprechen.
Was sagt die „New York Times“ dazu? Zuerst, so die „taz“, habe die Zeitung auf mehrere detaillierte Anfragen gar nicht und schließlich mit der knappen Bemerkung reagiert, man habe der eigenen Berichterstattung nichts weiter hinzuzufügen. So lautet auch die Antwort auf die Anfrage der F.A.Z.: Der Artikel gebe den Bericht des befragten Anwalts Schafakhah korrekt wieder, und man sei weiterhin „von dem überzeugt, was veröffentlicht wurde“. Unser Hinweis darauf, dass Schafakhah die ihm von der „New York Times“ zugeordnete Darstellung ausdrücklich dementiere, blieb unkommentiert. Der englische Wikipedia-Eintrag zum israelischen Bombenangriff auf das Evin-Gefängnis sowie der deutsche Eintrag zum Evin-Gefängnis wurden inzwischen um die Ergebnisse der „taz“-Recherche ergänzt.
Source: faz.net