Seine Leiche blieb in welcher Mongolei, sein Kopf in Moskau
War es ein Putsch-Versuch, ein Mordkomplott oder ein üblicher Machtkampf? Im September 1971 stürzte Maos Stellvertreter Lin Biao über der Mongolei ab. An der Affäre während der Kulturrevolution scheiden sich noch immer die Geister.
Es geschah am 13. September 1971. Morgens. Gegen 3 Uhr. Ein chinesisches Flugzeug stürzte unweit der mongolischen Stadt Öndörchaan ab und brannte aus. Alle neun Personen an Bord, acht Männer und eine Frau, kamen ums Leben. Der einzige Augenzeuge schilderte, dass das Heck des Flugzeugs bereits in Flammen stand, ehe es aufschlug.
Das unscharfe Foto einer Grube mit den neun einfachen Särgen nebeneinander sowie fünf, sechs Bilder der Flugzeugtrümmer, Tage und Wochen später aufgenommen, sind die einzigen Belege vom Ort des Geschehens. Die Nr. 256 auf einem Wrackteil verrät, dass es sich um eine der vier Hawker Siddeley Trident 1E handelte, die Chinas Militär 1970 im Zuge eines Tauschhandels mit Pakistan übernommen hatte. Die höchsten Funktionäre konnten darüber verfügen. Mit diesen wenigen Fakten endet, was außer Zweifel steht.
Zugleich beginnen damit die Vermutungen, Spekulationen, Andeutungen, Ausdeutungen, Gerüchte und Fiktionen. Denn zu den Toten gehörte Lin Biao, Verteidigungsminister der Volksrepublik China und seit dem 9. Parteitag 1969 der einzige Stellvertreter des Vorsitzenden Mao Zedong in Partei und Staat. Aber es dauerte gut einen Monat, ehe die höheren Kader der Partei über den Tod des 63-Jährigen informiert wurden. Und die Allgemeinheit erfuhr es erst gegen Ende des Jahres.
Die offizielle Sprachreglung lautet seitdem, Lin Biao habe mit der Sowjetunion konspiriert, um Mao zu töten und die Macht zu übernehmen. Als der Plan entdeckt wurde, sei es zu der überhasteten Flucht gekommen, bei der das Flugzeug nicht voll betankt wurde, sodass es auf dem Weg in die Sowjetunion in der Mongolei abstürzte.
Damit endete das schöne Märchen von der siegesgewissen Verbundenheit der Parteiführung und der unbestrittenen Stellung Maos. Was nicht wenige Apologeten der „Kulturrevolution“ noch als „permanente Revolution“ gedeutet hatten, die notwendig sei, um irgendwann im Paradies des Kommunismus leben zu können, erwies sich auch in China als ein Kampf um die Macht über Partei und Staat. Mit Mao als Sieger. Denn nach den „Säuberungen“ der Parteispitze vor und während der Kulturrevolution waren von Maos „engsten Waffengefährten“ nur noch zwei übrig geblieben: Zhou En-lai als der ergebene Administrator und Diplomat und Lin, der mit der Armee während der „Kulturrevolution“ die Macht absicherte und mit der sogenannten Mao-Bibel den überbordenden Personenkult um den „Genossen Mao Tse-tung als dem größten Marxisten-Leninisten unserer Zeit“ befeuerte.
Doch selbst denen traute Mao nicht. Da glich er Stalin und kleineren Alleinherrschern, die allenthalben Komplotte gegen sich vermuten und deshalb jeglichen potenziellen Rivalen „liquidieren“ lassen. Jedenfalls mangelte es Lin nicht an Hinweisen, dass Mao ihn auszuschalten trachtete, obwohl – oder weil – er ihn zur Nr. 2 in China promoviert hatte.
Ob Lin deshalb einen Putsch plante, ist umstritten. Genauso wie zweifelhaft ist, dass er an der Ausarbeitung des „Projekts 571“, das immer wieder als Beweis für den geplanten Staatsstreich zitiert wird, beteiligt war, weil es, wenig konkret, nichts von Lin Biaos Fähigkeiten als Militärführer erkennen lässt. Wahrscheinlich hatte es Lins Sohn, Lin Liguo, der mit 25 Jahren bereits eine der wichtigsten Funktionen in der Luftwaffe innehatte, ausarbeiten lassen. Und damit beginnen die unterschiedlichen Geschichten, die über Lin Biaos Tod kolportiert werden.
So erzählt eine, Lin Biao oder Lin Liguo wollten ein Festessen arrangieren, in dessen Verlauf plötzlich behauptet worden wäre, die Russen hätten China angegriffen. Deshalb sollten Mao und Zhou schleunigst in einem Bunker Schutz suchen. Dort sei bereits alles vorbereitet, sie mit Gas umzubringen oder sie zu erschießen.
Aber es gibt auch die Gegenerzählung, wonach Lin Biao am 13. September gar nicht in seiner Villa in Beidaihe, dem beliebten Seebad der Nomenklatura 300 Kilometer nordöstlich von Peking, sondern in der Hauptstadt selbst gewesen sei. Dort habe Mao ihn und seine Frau Ye Qun zu einem Dinner eingeladen. Auf dem Nachhauseweg sei ihr Auto auf Weisung des Gastgebers beschossen oder gesprengt worden, sodass beide zu Tode kamen. Deshalb habe Lin Liguo sofort die Flucht ergriffen. Allein mit einigen gleich alten Vertrauten. Und deshalb sei, wie ein mongolischer Mediziner erklärte, keiner der Toten des Absturzes älter als 50 Jahre gewesen – Lin Biao war 63, Ye Qun 54. Noch 1990 schrieben zwei hohe mongolische Funktionäre, es gebe keine unumstößlichen Beweise, dass Lin Biao an Bord der Maschine gewesen sei.
Das alles sind Spekulationen. Vor allem, wenn es um die Frage geht, wie und warum es zu diesen Machtkämpfen in Peking kam. Ob Lin Biao die treibende Kraft war, weil Mao hintertrieben hätte, dass er als Nachfolger des in der „Kulturrevolution“ gestürzten Liu Shaoqi Staatspräsident würde. Oder ob es Lin Liguo, sein machtgieriger Sohn gewesen sei, den der Vater nicht zurückhalten konnte.
Auch welche Rolle Ye Qun, Lins zweite Frau (oder auch die dritte, wenn man eine arrangierte Ehe, der er sich entzog, mitrechnet), die Mutter Liguos spielte. Schließlich waren sie und Maos vierte Frau Jiang Qing – beide Damen waren kaum in Freundschaft verbunden, jedoch jede auf ihre Art in Intrigen um die Macht verwickelt – 1969 als erste Frauen ins einflussreiche Politbüro gewählt worden.
Und schließlich kommt noch Lin Liheng (Lin Doudou), die 27-jährige Tochter, ins Spiel. Als sie von dem Fluchtplan erfuhr, weigerte sie sich, mit der Familie zu fliehen. Stattdessen versuchte sie – ob aus Angst um den kranken Vater oder aus Treue zur Partei – mit Zhou En-lai zu telefonieren. Obwohl sie ihn nicht direkt erreichte, erfuhr er so zwei Stunden zuvor von den Fluchtvorbereitungen.
Sofort ordnete er ein Startverbot für alle Flugzeuge an, das Lin jedoch kraft seines Ranges aushebelte. Auf dem Weg von Beidaihe zum 40 Kilometer entfernten Flughafen Qinhuangdao Shanhaiguander soll deshalb ein Soldat, der Zhous Weisung kannte, vergeblich auf das Auto geschossen haben, das die nachfolgenden Kontrollstellen dann passieren ließen. Außerdem habe Liguo eine der Leibwachen, die Verdacht geschöpft hatte, unterwegs erschossen. Und zuletzt versuchte ein Flugwart den Start zu verhindern, indem er einen Tankwagen auf die Piste stellte, sodass der Pilot über eine Graspiste ausweichen musste (was allerdings wenig wahrscheinlich klingt, da die Trident 1E wegen der langen festen Startbahn, die sie benötigte, als „Ground Gripper“ verspottet wurde).
Währenddessen soll Zhou Mao informiert und vorgeschlagen haben, die Maschine abschießen zu lassen, was Mao jedoch mit einem mitleidigen „Lass’ ihn gehen“ quittiert hätte. Trotzdem wird immer wieder der Verdacht geäußert, die Maschine sei auf Befehl Maos oder Zhous verfolgt und mit einer Rakete zerstört worden.
Vermutet wird auch, der Pilot sei zu niedrig geflogen, um unter dem mongolischen Radar zu bleiben. Dadurch sei es zu einer verhängnisvollen Bodenberührung und dem Absturz gekommen. An Treibstoffmangel habe es jedenfalls nicht gelegen, das belege das Ausbrennen des Flugzeugs. Und wenn es der Versuch einer Notlandung war, hätte man zuvor den Treibstoff abgelassen. Außerdem wäre dann sicher das Fahrgestell ausgefahren worden, was nicht geschah.
Vielmehr deutete alles darauf hin, dass die Maschine noch ohne Probleme Chita oder Irkutsk in der Sowjetunion hätte erreichen können. Allerdings habe das Flugzeug, wie spätere Analysen der Route ergaben, vor der russischen Grenze seinen Kurs in Richtung Guangzhou (Kanton) geändert, denn der Süden Chinas war die Machtbasis Lins. Sein Verhältnis zur Sowjetunion sei dagegen stets zwiespältig gewesen, obwohl er nach einer schweren Verwundung 1939 bis 1942 in Moskau gelebt habe. Andererseits habe Lin nachweisbar zweimal Kontakte zur Kuomintang-Führung auf Taiwan gesucht, was weder bestätigt noch dementiert wird.
Der Grund für die übereilte Flucht soll ein gescheitertes Attentat auf Mao gewesen sein. Der war seit Mitte August mit dem Zug zu einer Inspektionsreise in den Süden aufgebrochen, um die Funktionäre darauf vorzubereiten, dass Lin zu denen gehöre, die den „kapitalistischen Weg“ beschritten hätten und deshalb eliminiert würden. Auf der Rückfahrt nach Peking habe er von den Plänen, ihn zu ermorden, erfahren. Deshalb verließ er in Hangzhou und Shanghai nicht mehr den Zug, sondern empfing die örtlichen Kader nur in seinem Abteil. Zugleich änderte er Zeitplan und Wege, sodass der Plan, den Zug auf der Strecke in die Luft zu sprengen oder zu beschießen, ins Leere ging.
Als Mao am 12. September nachmittags Peking erreichte, war der Versuch einer Machtübernahme offensichtlich gescheitert. Lin blieb nur die Flucht. Und auch da wird gemunkelt, er sei zu dieser Zeit apathisch und unentschlossen gewesen, weshalb ihn Frau und Sohn gegen seinen Willen zum Flughafen brachten, wo er, weil keine Treppe bereitstand, mit einem Gabelstapler in die Maschine gehievt wurde. Etwa 20 Minuten nach dem Start in Richtung Guangzhou erschien das Flugzeug erneut über dem Flughafen. Doch weil dort alle Lichter ausgeschaltet waren, konnte es nicht landen. Also schlug es den Kurs nach Westen ein – und endete bei Öndörchaan.
Das ist jedoch nicht das Ende dieses Politspektakels. Noch am selben Tage war eine mongolische Gruppe am Ort des Absturzes. Da sie nicht erkannte, um welche prominenten Chinesen es sich handelte, wurden die neun Leichen unidentifiziert unmittelbar danach beerdigt. Lediglich ein Ausweis verriet, dass unter den Toten ein Lin Liguo war.
Während die Mongolei danach den chinesischen Botschafter einbestellte, um gegen das unangemeldete Eindringen der chinesischen Maschine in den mongolischen Luftraum zu protestieren, wurde die Sowjetunion aktiv. Unter Leitung von Vitali Tomlin, einem Pathologen im Dienste der Sowjetarmee, und Alexander Zagvozdin vom KGB wurden die Leichen zweimal exhumiert und Teile der Leichen – darunter zwei Köpfe, die sich nach längeren Untersuchungen als die von Lin Biao und Ye Qun erwiesen – zur Identifikation nach Moskau gebracht. Anhand medizinischer Unterlagen von Lin Biao aus seiner Zeit in Moskau sei seine Identität nachgewiesen worden. Das blieb jedoch geheim. Informiert wurden allein Parteichef Leonid Breschnew und Juri Andropow, der Chef des KGB.
Auch in China tauchte in den folgenden zwei Jahren der Name von Lin Biao nicht mehr auf. Als Maos vierte Frau Jiang Qing im Januar 1974 die Kampagne „Pi Lin Pi Kong“ („Kritisiert Lin Biao, kritisiert Konfuzius“) lancierte, um im Zuge der „Kulturrevolution“ neben Mao die höchsten Positionen zu okkupieren, wertete man das als ihren Versuch, Zhou En-lai auszuschalten. Doch der vermochte sich gegenüber Jiang zu behaupten. Lin aber galt fortan als der Inbegriff des Verrats an den „Mao Zedong-Ideen“.
Sein Name erschien zwar auf Plakaten und Karikaturen, allerdings nur mit Parolen, nicht mit Bildern. Seine Leiche blieb in der Mongolei, sein Kopf in geheimen Archiven Moskaus. Nur eine winzige Rehabilitierung ist inzwischen zu vermerken: Das Pekinger Militär Museum ehrt seit Juli 2007 mit einer Porträtfolge die „Zehn Marschälle“, denen die KP China ihren Sieg im Bürgerkrieg gegen die Kuomintang (1945–1949) verdankt – und zu denen gehört Lin Biao genauso wie Peng Dehuai, He Long und Chen Yi, die ebenfalls Opfer der „Kulturrevolution“ wurden. Für diese Armeeführer wie für Lin Biao bleibt deshalb das chinesische Sprichwort, das Mao gern zitierte, ein zwiespältiger Trost: „Erst wenn der Sarg geschlossen ist, lässt sich ein Urteil über den Besitzer fällen.“
Source: welt.de