Faszination Menschheit Faschismus Stereotype Russland | Die Nominierten zum Preis jener Leipziger Buchmesse in jener Kategorie Sachbuch / Essayistik

Die Zeit vor Hitlers Machtergreifung, Putins Propagandaapparat und ein entzauberter Rilke: Die Nominierten zum Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch / Essayistik

Grafik: der Freitag


Planlos in den Abgrund

Jens Biskys neue Studie blickt auf die Wendejahre vor Hitlers Machtergreifung

Wie konnte es so weit kommen? Wie vermochte Adolf Hitler letztlich an die absolute Macht zu kommen? Der 1966 in Leipzig geborene Journalist und Autor Jens Bisky, der im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung als Sachbuchredakteur tätig war, geht diesen Fragen in seiner monumentalen Studie Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934 nach. Er wendet den Fokus zunächst auf die Folgen des Todes von Gustav Stresemann im Jahr 1929. Bauernproteste, das Erstarken der nationalistischen, rechtskonservativen Kräfte, die Erosion des Bürgertums und die zunehmende Verarmung als Konsequenz eines enthemmten Kapitalismus erweisen sich als toxische Melange, die den Aufstieg der Faschisten im Kampf mit den geschwächten Demokraten begründet. Bisky erzählt die historischen Begebenheiten nicht einfach nach, sondern lässt Politiker, Journalist:innen und zivilgesellschaftliche Akteure dieser Umbruchphase zu Wort kommen, die zu einer Verdichtung der kausalen Zusammenhänge beitragen. Es hat treffliche Gründe, die uns zur Mahnung dienen sollten.

Das schöne Unschöne

Maike Albaths neues Buch führt uns in die Geheimnisse der Stadt Neapel ein

Was haben der Fußballer Diego Maradona, Kaffee und Krippen gemein? Richtig! Sie sind unmittelbar mit der italienischen Stadt Neapel verbunden, einer von vielen als schmutzig und wenig attraktiv beschriebenen Underdog-City, die zugleich eine starke Aura besitzt. Wie sich der Charakter der Metropole am Golf entwickelte, dieser Frage geht die Literaturkritikerin und Schriftstellerin Maike Albath in Bitteres Blau. Neapel und seine Gesichter nach. Als Kennerin der italienischen Kultur ist die studierte Romanistin mit vielen Autor:innen südlich der Alpen vertraut. Sie spricht in diesem Text zum Beispiel mit Benedetto Croce und Elena Ferrante. Jenseits dieser literarischen Erkundungen erfahren die Leser:innen Zahlreiches über die Stadt an sich, der Albath zur späten Ehrenrettung verhilft. Sie schreibt damit an ihrem Großprojekt der weiteren Porträtierung Italiens fort. Denn das Buch knüpft an Vorläufer an, darunter Der Geist von Turin. Pavese, Ginzburg, Einaudi und die Wiedergeburt Italiens nach 1943 sowie Rom, Träume. Moravia, Pasolini, Gadda und die Zeit der Dolce Vita.

Krieg ist keine Natur

Wo rührt unsere Gewalt her? Eine neue Studie blickt auf die Evolution der Zivilisation

Dass körperlich ausgetragener Hass, dass Zerstörungsdrang, Missgunst und schließlich das größte Übel: der Krieg, keineswegs unerwartet vom Himmel fallen, sondern dass ihnen eine lange und differenzierte Genese vorausgeht, vermittelt das Sachbuch Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen, geschrieben von Harald Meller, Kai Michel sowie Carel van Schaik. Um kausale Zusammenhänge zu plausibilisieren, nehmen die Autoren neben dem Menschen auch Tiere, insbesondere Primaten, in den Blick – aus ihrem Verhalten werden sodann Schlüsse auf die Entwicklung von Despotien, Allmachtstreben und Narzissmus gezogen. Nicht bewiesen wird eine vornehmlich biologische Begründung. Vielmehr wird der Prozess der Zivilisation als Ursache betrachtet, wodurch klar wird: Der Krieg steckt nicht in unserer DNA. Vor dem Hintergrund der russischen Invasion in die Ukraine und damit verbundenen Völkerrechtsverletzungen kommt der Studie ein überaus hoher Aktualitätswert zu.

Die Lüge als Wahrheit

Von Spezialoperationen und dem Krieg – ein Buch zu Putins Propagandaapparat

Die russische Propagandamaschinerie hat viele Adressat:innen: Nach innen vertritt sie das Credo, beim Einmarsch in der Ukraine handele es sich statt um Krieg um eine „militärische Spezialoperation“. Nach außen verbreiten die gleichgeschalteten und Kreml-treuen Medien die Chimäre, die Zeitungen und Rundfunkhäuser des Westens folgten einer gezielten und damit verzerrenden Staatslenkung. Die Lüge wird zur Wahrheit und umgekehrt. Dass dieses politische Manöver Moskaus nicht ganz neu ist, zeigen Vorläufer der Kriminalität der 1990er Jahre. Nachlesen und vertiefen lassen sich jene Einsichten in dem Essay Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung der 1983 in Juschno-Sachalinsk geborenen Irina Rastorgueva. Besonders von der Kritik hervorgehoben werden die genauen und präzisen Analysen von Rhetorik und Sprache. By the way zeugt diese Studie daher auch vom Wert der Literaturwissenschaft. Die Kulturjournalistin und Autorin Irina Rastorgueva selbst ist studierte Philologin und verfügt daher über das nötige methodische Rüstzeug.

Der neue Rilke

Sandra Richter räumt mit Klischees über den Jahrhundertdichter auf

Selbst noch in seinem Jubiläumsjahr gilt der Dichter Rainer Maria Rilke vielen dem Klischee nach als eremitischer Ästhet. Diesem Stereotyp entgegen tritt die neue Biografie Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben aus der Feder der Direktorin des Deutschen Literarchivs in Marbach, Sandra Richter. Sie fokussiert einen bislang weitestgehend unbekannten Rilke, einen, der sehr genau Überblick über die eigenen Finanzen hatte und sich gekonnt im Literaturbetrieb zu bewegen wusste, einen, dessen Begeisterungsfreude, vom Okkulten bis zum ägyptischen Totenkult, erst das eigene Werk hervorbrachte. Die Hauptaussage: Alles, was der Poet an Tristesse, Schwermut und Abgründigkeit in der Umbruchphase des Fin de Siècle vorfand, konnte er zum Schönen transzendieren. Einen poetischen Verwandlungskünstler könnte man ihn daher nennen. Auch wenn er kein dezidiert politischer Schriftsteller war, hatte er Positionen. Was in diesem Kontext ein „rückwärtsgewandter Modernismus“ darstellt? Darauf gibt die erfrischend neue Annäherung an einen Jahrhundertdichter kluge Antworten.

Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934 Jens Bisky Rowohlt 2024, 640 S., 34 €

Bitteres Blau. Neapel und seine Gesichter Maike Albath Berenberg Verlag 2024, 352 S., 26 €

Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik dtv 2024, 368 S., 28 €

Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung Irina Rastorgueva Matthes & Seitz 2024, 337 S., 28 €

Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben Sandra Richter Insel Verlag 2025, 478 S., 28 €