„Man wähnte sich lebendig begraben“

Am 3. Februar 1945 bombardierten US-Maschinen das Regierungsviertel der Reichshauptstadt. Getroffen wurden auch dicht besiedelte Wohngebiete. Forschungen des Vereins Berliner Unterwelten erweitern jetzt das Wissen über den Angriff.
Als der Morgen graute über Berlin am 3. Februar 1945, hingen Wolken am Himmel. An sich ein beruhigendes Zeichen, denn die US-Bomber flogen größere Attacken meist nur bei einigermaßen klarem Wetter.
In der Reichshauptstadt strömten Menschen zur Arbeit, um ihren „totalen Kriegseinsatz“ für den „Endsieg“ zu erbringen – absurd angesichts der Tatsache, dass die Rote Armee bereits einen Brückenkopf westlich der Oder erobert hatte. Der Zweite Weltkrieg, 1939 ausgegangen von Berlin, stand vor der Rückkehr in die Stadt.
Als der Morgen graute über Berlin an diesem Samstag, hoben von Fliegerbasen der USAAF im Südosten Englands 1003 schwere Bomber ab; 613 Jagdflugzeuge begleiteten sie. Der riesige Pulk nahm Kurs fast genau nach Osten, Richtung Magdeburg. Doch diese Stadt war bereits 18 Tage zuvor aus der Luft zerstört worden – hier gab es nichts mehr zu treffen. So war das tatsächliche Ziel des bevorstehenden Tagesangriffs leicht zu erraten: Berlin.
Um 10.27 Uhr gab die regionale Jägerleitstelle Voralarm, und zwölf Minuten später stand fest, dass an diesem Tag tatsächlich die Reichshauptstadt attackiert werden sollte: Unzählige Sirenen heulten los. Mehr als drei Millionen Menschen strebten in Schutzräume und hofften, dass es sie nicht treffen würde. Inzwischen hatte es aufgeklart, die Sonne schien vom nur noch leicht bewölkten Himmel auf die Stadt.
Gegen 10.52 Uhr schwenkten östlich von Zerbst die ersten US-Bomber auf ihren Zielkurs Nordost und flogen über die südwestlichen Stadtbezirke nach Mitte. In Zehlendorf erlebte Sabine Alenfeld, als Ehefrau eines trotz evangelischer Taufe verfolgten Juden jeder Sympathie für das Dritte Reich unverdächtig: „Es war unheimlich, welche Massen an Flugzeugen – ganz ungestört, mit geringem Flakbeschuss – über uns hinwegzogen. Wie so eine Schar silberner glänzender Stichlinge im klaren Wasser. Leider nicht so harmlos!“
76 viermotorige Maschinen hatten aus meist technischen Gründen vorzeitig abdrehen müssen, doch 937 kamen über Berlin an. Sie trugen insgesamt mehr als 2000 Tonnen Sprengbomben an Bord und rund 250 Tonnen Brandsätze. Diese Ladung zeigte, worauf der Angriff zielte: Bauwerke und Verkehrsanlagen. Darauf legte der verantwortliche General der USAAF, Carl Spaatz, Wert: Es ging um die Gebäude des Regierungsviertels und mehrere Bahnhöfe, darunter der Anhalter und der Potsdamer Bahnhof sowie die Station Friedrichstraße. Doch im Zielgebiet zwischen Spree und Landwehrkanal, zwischen Tiergarten und Alexanderplatz lagen auch dicht besiedelte Wohnviertel.
Um 11.02 Uhr begannen die bis dahin schlimmsten 50 Minuten in Berlins Geschichte. Die 14-jährige Eva Reichel erlebte sie mit Mutter, kleinem Bruder und Hund im Keller ihres Kreuzberger Hauses. „Wir saßen in gebückter Haltung. Und dann dieses Krachen, dieser Knall. Das Licht fiel aus. Der Staub war unbeschreiblich.“
Nicht weit entfernt, in einem Luftschutzkeller an der Ritterstraße, hockte Luzie Kannewischer: „Wir alle glaubten, nicht zu überleben. Als dann endlich Entwarnung kam, sahen wir, dass wir trotz allem noch Glück gehabt hatten, denn das gesamte Zeitungsviertel war vernichtet, der Tag plötzlich zur Nacht geworden. Es brannte überall, und die Straßen waren übersät von Trümmern.“
Mitten im Zielgebiet lag ein Bürogebäude der Allianz-Versicherung, in dem die ältere Schwester von Veronika Kandel ihre Lehre absolvierte. Wie stets bei Luftalarm war sie mit ihren Kollegen in den Schutzraum gegangen, doch genau diesen Keller traf eine Bombe. „Mein Vater arbeitete auch dort und versuchte, sie zu retten. Leider glückte es ihm nicht“, erinnerte sich Veronika.
120.000 Obdachlose
„Die Apokalypse hat Einzug in Berlin gehalten“, notierte der Journalist Hans-Georg von Studnitz, der den Angriff im Schutzraum unter dem Pariser Platz erlebte. „Unter den schweren Einschlägen zitterte und schwankte der Bunker wie ein gewöhnlicher Hauskeller. Schließlich erlosch die Beleuchtung, und man wähnte sich lebendig begraben.“ Um 11.52 Uhr endeten der Angriff, 25 Minuten später gaben die Sirenen Entwarnung. Bald stand Studnitz auf dem Pariser Platz und sah, dass über der Innenstadt riesige Rauchwolken hingen: „Hell wurde es an diesem Wintersamstag nicht mehr, stattdessen beherrschten blutiges Rot und fahles Gelb.“
Bemüht nüchtern verzeichnete die Hauptluftschutzstelle des Berliner Magistrats die Folgen des Angriffs. Über den Bezirk Mitte hieß es: „Fast in seiner gesamten Ausdehnung schwer getroffen. Die durch besonders dichte Bombenteppiche betroffenen Gebiete erstrecken sich von der Südwestecke des Bezirks (Gegend Potsdamer Platz – Leipziger Platz – Hermann-Göring-Straße) in breiter Front nach Nordosten über die Gegend Bahnhof Alexanderplatz hinweg.“ Allein in Mitte zählten die Beamten rund 25.000 Obdachlose; noch mehr Menschen hatten in Kreuzberg ihre Bleibe verloren, etwa 33.000. Insgesamt verloren 120.000 Menschen das Dach über dem Kopf.
Zum 80. Jahrestag haben die Brüder Dietmar und Ingmar Arnold sowie Christoph Blase und Michael Foedrowitz alle verfügbaren Unterlagen, Fotobestände und Zeitzeugenschilderungen erneut durchgesehen. Die vier Bunker- und Luftkriegsexperten gehören zum Verein Berliner Unterwelten, der sich die Erforschung unter anderem der Geschichte der Hauptstadt im Zweiten Weltkrieg verschrieben hat. Ihre Analyse zeigt, dass bisher als selbstverständlich geltende Ansichten über den Angriff am 3. Februar 1945 wahrscheinlich falsch sind.
Dabei geht es vor allem um zwei Fragen: Kam es erstens bei diesem Bombardement im Südteil des Zielgebietes zu einem Feuersturm? So nennt man ein erstmals im Zweiten Weltkrieg durch Bombardements erzeugtes Brandphänomen, bei dem die Hitze brennender Häuser eine Art Kamineffekt erzeugt, der die Flammen ständig weiter anfacht und weiterträgt. Orkanartig saugt so ein Stadtbrand (er kann nur in dicht bebauten Städten entstehen) allen verfügbaren Sauerstoff an; wer hineingerissen wird, hat kaum eine Überlebenschance. Und, zweitens: Wie viele Opfer waren zu beklagen?
Die neuen Antworten der vier Unterwelten-Forscher auf diese Fragen werden am 80. Jahrestag bei zwei Gedenkfeiern zur Erinnerung an die Schrecken des (Luft-)Krieges im Allgemeinen und des Angriffs vom 3. Februar 1945 im Besonderen vorgestellt.
Die Fachliteratur war bisher fast einhellig der Meinung, dass es zu dem etwa bei den Angriffen auf Hamburg im Sommer 1943, auf Kassel, Darmstadt oder Gießen 1944 und auf Dresden oder Pforzheim 1945 dokumentierten Phänomen in Berlin nicht gekommen sei, mit einer relativ kleinen Ausnahme: Ende November 1943 hatte es im eleganten Hansaviertel zwischen Spree und Tiergarten einem Feuersturm gegeben; von den 343 Häusern überstanden gerade 70 am Süd- und Ostrand des begehrten Wohnquartiers die Flammen. Doch das Gebiet, das am 3. Februar 1945 zerstört wurde, war um ein Vielfaches größer.
Bis zu 10.000 Tote
In Zeitzeugenerinnerungen ist für diesen Angriff oft die Rede von einem „Feuersturm“ – doch das genügt den Arnolds, Blase und Foedrowitz natürlich nicht, um die These aufzustellen, es habe tatsächlich dieses definierte Brandphänomen vorgelegen. Wichtiger sind konkrete Schilderungen wie diese: „Der Sog zu den Flammen war an der Kreuzung Friedrich- / Kochstraße so stark, dass sich die Menschen zu Ketten oder Gruppen anfassen und festhalten mussten, um nicht in die Flammen gerissen zu werden.“ Entscheidend jedoch sind die Zerstörungen des Gebiets zwischen dem (bereits zugeschütteten) Luisenstädtischen Kanal im Osten, der Köpenicker Straße im Norden, der Gitschiner Straße im Süden und der Friedrichstraße im Westen: Hier standen nach dem 3. Februar auf etwa 400 Hektar nur noch Reste ausgeglühter Häuser – typisch für einen Feuersturm.
Das Areal ist fast so groß wie die gesamte Innenstadt von Dresden, die zehn Tage später unterging. Damit stellt sich die Frage: Kann die offiziell genannte Zahl von knapp 3000 Opfern stimmen? In Dresden starben bis zu 25.000 Menschen – mitgerechnet die erst Jahrzehnte später aus verschütteten Kellern geborgenen Leichen. Kann es in Berlin bei einem Feuersturm in einem ähnlichen Gebiet wirklich „nur“ ein Achtel so viele Tote gegeben haben?
Die Unterwelten-Forscher haben alles an Material durchgesehen, was die Archive hergeben. Im Berliner Sterberegister sind für den 3. Februar 1945 genau 4256 Tote verzeichnet – allerdings nicht alle verstorben in der Innenstadt. Umgekehrt dürften noch in den folgenden Tagen und Wochen viele Menschen ihren an jenem Samstag erlittenen Verletzungen erlegen sein. Noch bedeutsamer ist eine Liste der identifizierten Opfer, die zeitnah bei der Kriminalpolizei zusammengestellt wurde. Sie umfasst für die Buchstaben A bis O 5338 Namen; die Lücke „konnte nur teilweise durch einen Vergleich mit dem Sterberegister des Standesamtes Kreuzberg und den (…) vorhandenen Friedhofsunterlagen geschlossen werden“, schreibt Ingmar Arnold.
Wie viele Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge umkamen, denen in NS-Deutschland der Zugang zu Schutzräumen verwehrt war, ist ebenfalls unbekannt. Insgesamt muss man wohl mit bis zu 10.000 Toten durch den Angriff am 3. Februar 1945 rechnen.
Sven Felix Kellerhoff ist Leitender Redakteur bei WELT Geschichte. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören Zweiter Weltkrieg, Nationalsozialismus, DDR, linker und rechter Terrorismus sowie Verschwörungstheorien.
Source: welt.de