Die Totenstille von Dresden

Kurz vor dem 80. Jahrestag der Bombardierung von Dresden zeigt das dortige Staatsschauspiel ein Stück nach Durs Grünbeins Roman „Der Komet“. Dass die Inszenierung gelingt, liegt vor allem daran, dass sie stets auf ihr Publikum schaut. Und ihm etwas zutraut.
Erinnerung, so heißt es am Anfang der Bühnenfassung von „Der Komet“, ist kein Kuchen, den man in Ruhe backen kann, sondern eher wie die Quallen im Meer, die einen plötzlich mit ihren Nesselfäden streifen und kaum zu fassen sind. Um diese Anklänge einer Proust’schen Geschichtskonzeption der „mémoire involontaire“ zu unterstreichen, tänzeln die sieben Schauspieler wie wirbelloses Getier, das von den Wellen der Geschichte bewegt wird, über die Bühnenschräge: Eintauchen bitte! Erkundet werden tiefere Geschichtsströme in Dresden vor der Bombardierung am 13. Februar 1945.
Der Dresdner Dichter Durs Grünbein, bereits in jungen Jahren mit dem Büchner-Preis geehrt und von der grauen Eminenz der DDR-Literatur Heiner Müller hochgelobt, hat Ende 2023 das Buch „Der Komet“ veröffentlicht. Grünbein beschreibt (basierend auf den Erinnerungen seiner Großmutter) das Leben einer einfachen Frau, die 1936 aus der schlesischen Provinz in die sächsische Metropole kommt und 1945 die Bombardierung erlebt und überlebt. Nun, kurz vor dem 80. Jahrestag des Luftangriffs, hat der Regisseur Tilmann Köhler den Stoff als sanfte Konfrontationstherapie auf die Bühne gebracht.
Als Perspektive wählt dieser Theaterabend die Draufsicht, als ob man im Flugzeug über Dresden schwebte. Die Bühne von Karoly Risz ist ein Stadtplan auf einer aus losen Holzplatten zusammengesetzten Schräge. Man sieht die Elbe, die Alt- und Neustadt trennt, den Zwinger, die Häuserblocks. Die Stadt ist die Spielfläche für das großartige Ensemble – Marin Blülle, Henriette Hölzel, Sven Hönig, Christine Hoppe, Anna-Katharina Muck, Karina Plachetka und Matthias Reichwald –, von Susanne Uhl in edle schwarz-weiße Kostüme gesteckt, die zahlreiche und schnelle Rollenwechsel erlauben.
Theater für Puristen
Köhler und sein Ensemble zeigen, dass man weder Video noch Nebelmaschine braucht, um eine Geschichte zu erzählen. Es ist Theater für Puristen, das sich auf Körper und Sprache der Schauspieler verlässt – und auf die Imagination der Zuschauer. Köhler verzichtet, wie bereits in seinem DDR- und Nachwendepanorama „Dumme Jahre“ in Weimar, auf Illustration. Die Älteren im Publikum sind womöglich gar mit eigenen Erinnerungen in das Kleine Haus des Staatsschauspiels gekommen, die Jüngeren – darunter Schulklassen – kennen Ruinenbilder aus Familie oder Geschichtsbüchern.
Im flotten Tempo und mit überzeugenden spielerischen Einfällen geht es von Szene zu Szene, von Jahr zu Jahr. Dora und ihre selbstbewusste Freundin Trude albern beim Baden, ihre Männer Oskar und Edgar, beide im Schlachthof beschäftigt, sitzen bei Bier und Zigarre. Von Politik hält man sich fern und – anders als die jüdische Nachbarin im Haus, die eines Tages verschwunden ist – kann man sich diese Distanz erlauben, weil man nicht aus der „Volksgemeinschaft“ herausfällt. Man muss sich nie entscheiden, weil alles vorentschieden ist. Und Konflikte hat man nicht, weil man sie meiden kann.
Mit der „Reichspogromnacht“ ändert sich der Grund, auf dem die Figuren stehen. Mit rotem Klebeband werden die zerstörten Synagogen und jüdischen Geschäfte auf dem Stadtplan markiert. „Juden unerwünscht“ ist nun überall zu lesen, „Der Stürmer“ wird mit dem Satz „Deutsche endlich unter sich“ zitiert. Rote Markierungen hat es, wie man wenig später hört, auch für die alliierten Bomberverbände gegeben. So schafft die Bühne einen Geschichtsraum der Zerstörung, in dem auch Coventry, Birmingham und Liverpool vorkommen. Die Nazi-Propaganda sprach vom „Coventrieren“ ganzer Städte.
„Naturgeschichte der Zerstörung“
Die Protagonistin Dora fühlt sich manchmal wie „in einem falschen Film“. Das heißt eben auch: Sie bleibt immer Zuschauerin. Sie nimmt sowohl den Terror gegen die Juden als auch die Bombennächte wie unabänderliche Katastrophen wahr, als erfahrungslose „Naturgeschichte der Zerstörung“, wie es W.G. Sebald in seiner berühmten Vorlesung „Luftkrieg und Literatur“ nannte. Und auch Oskar, der als Koch bei den Raub- und Vernichtungsfeldzügen der Wehrmacht ist, kann sein Erleben an der Ostfront nicht in Worte fassen und flüchtet sich stattdessen in Begeisterung für technische Neuerungen.
Die Figuren können nicht sprechen über das, was sie erleben. Oder ist schon das Erleben lückenhaft? Wie getrennt sind sie von ihrem eigenen Leben? Auf der Bühne zeigt sich diese Lücke, indem die Schauspieler selten aus der Figur heraus sprechen, sondern meist über sie berichten. Auch über den Krieg, den „totalen“, spricht man wie in „Wochenschau“ oder „Volksempfänger“: Mit „Freude über Produktionsrekorde“ bei der „Entfesselung der Zerstörungskraft“. Dass diese Zerstörungskraft einen selbst treffen könnte, kann man sich schlicht nicht vorstellen. Also geht es einfach immer weiter.
Die Handlungs- und Erfahrungslosigkeit steigern sich bis in Surreale. Kurz vor der Bombardierung wird in Dresden noch Fasching gefeiert, doch die glitzernden Kostüme gleiten den erstarrenden Figuren angesichts des sich ankündigenden Schreckens aus den Händen und verteilen sich über die Bühne. Der Krieg, bisher weit weg, ist nun da. Eine Erinnerung an einen Verwandten, der von seiner Mordsarbeit im Lager Treblinka erzählte, wird zur dunklen Vorahnung. Und aus den Glühwürmchen, über die man gerade noch gesungen hat (Matthias Krieg mit toller Musik!), wird ein Feuersturm.
„Schuldige und Unschuldige“ werden am 13. Februar 1945 bombardiert, weil die für die Ewigkeit geschaffene Ordnung sich nur vom Himmel aus wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen ließ, heißt es in „Der Komet“. Das alles wird erzählt, ohne sensationsgierig zu bebildern. Ein paar herausgerissene Holzplatten des Bühnenbilds verdeutlichen die Zerstörung. Dazu hat sich Spiegelwand über die Bühne gesenkt. Erst verdoppelt sie, in schräger Position, den Grundriss der Stadt mit den Schauspielern. Am Ende hängt sie gerade herab und fängt die Gegenschräge ein: das Publikum. Totenstille.
Dieser ruhige, kluge und eindrückliche Abend endet damit, dass die Stadt in den Spiegel der Vergangenheit schaut. Was man damit macht, bleibt offen. Doch weil dieser Abend immer sein Publikum im Blick hat, gelingt es ihm, die Schwächen des Buchs – die flachen Charaktere, das Überblickshafte der Handlung – im wahrsten Sinne des Wortes zu überspielen. Was die Inszenierung an Lücken lässt, fordert die Zuschauer auf, einen Schritt aus der Sprachlosigkeit zu machen und die Gewalt zu sehen, die vor den Bomben bereits herrschte. Ein wichtiger Anstoß für ein Stadtgespräch kurz vor dem Jahrestag.
Source: welt.de