Jörn Leonhard: „Man darf den Frieden nicht mit Erwartungen überfordern“
Bald drei Jahre dauert der Krieg in der Ukraine schon – ein Ende ist nicht in Sicht. Der Historiker Jörn Leonhard hat Kriege der Neuzeit untersucht, er erklärt, was es für einen Frieden bräuchte. Leonhard ist Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
ZEIT ONLINE: Herr Leonhard, Sie haben in Ihrem Buch Über Kriege und wie man sie beendet untersucht, wie es in der Geschichte zu Friedensschlüssen gekommen ist. Am 20. Januar wird Donald Trump sein Amt antreten. Er will auf Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine drängen. Kann das gelingen?
Jörn Leonhard: Mich hat als Historiker interessiert, wann ein Konflikt reif für eine diplomatische Lösung ist. Aus den historischen Beispielen, mit denen ich mich beschäftigt habe, kann man ableiten, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Friedensschluss höher ausfällt, wenn alle Akteure auf dem Schlachtfeld nicht mehr glauben, dass sie dort militärisch mehr gewinnen, als sie von einer politischen Lösung erwarten können. Das muss ausdrücklich für alle Akteure gelten, nicht nur für einen. Im Krieg Russlands gegen die Ukraine ist das noch nicht der Fall. Ich bin daher eher skeptisch.
ZEIT ONLINE: Derzeit scheinen die Maximalforderungen beider Seiten unerreichbar. Vermutlich wird die Ukraine Russland nicht hinter seine Grenze von 1991 zurückdrängen – und Russland nicht alle Territorien erobern und halten können, die es annektiert hat. Können Siege oder Niederlagen auch umdefiniert werden?
Leonhard: An der Frage danach, was ein Sieg ist, hängt zugleich die Frage der politischen Legitimation nach innen. Im 19. und 20. Jahrhundert erwies sich politische Herrschaft im Augenblick der Niederlage immer wieder als fragil. Denken Sie an die Endphase des Ersten Weltkrieges ab 1917, als militärische Niederlagen sich mit Revolutionen verbanden. Würde Wolodymyr Selenskyj jetzt massive Konzessionen zugestehen, dann halte ich es für wahrscheinlich, dass er das innenpolitisch nicht überstehen würde. Das gilt aber auch für Wladimir Putin. Der Aufstand des Söldner-Unternehmers Jewgeni Prigoschin hat darauf ja ein Schlaglicht geworfen. Aber was ein Sieg ist, lässt sich natürlich auch neu definieren, es lassen sich Wege finden, wie beide Seiten einen Friedensschluss als Sieg interpretieren können, etwa als Behauptung auf dem Schlachtfeld oder moralisches Durchhalten. Doch solange die Definitionen nicht in irgendeiner Form kompatibel sind, wird die militärische Logik, den Sieg auf dem Schlachtfeld doch noch erreichen zu können, die größere Rolle spielen.
Heute erwarten wir von einem Frieden viel mehr: nicht allein die Abwesenheit militärischer Gewalt, sondern Gerechtigkeit und die Anerkennung der Opfer, die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen.
ZEIT ONLINE: Zwingt nicht die hohe Zahl an Opfern irgendwann eine Kriegspartei, aufzugeben?
Leonhard: Das ist historisch gesehen häufig sogar umgekehrt. Eine hohe Zahl an Opfern lässt sich gesellschaftspolitisch nur mit einem weitgehenden Sieg und entsprechenden Kompensationen rechtfertigen. Umgekehrt werden erhebliche Konzessionen dann als ein Verrat an den Opfern interpretiert. Ein besonders eindrückliches Beispiel aus der deutschen Geschichte ist die Dolchstoßlegende, also die Vorstellung im Ersten Weltkrieg, dass eine defätistische Heimatfront einer eigentlich tapfer kämpfenden Armee in den Rücken fiel. Dieser Mythos hat die politische Kultur der Weimarer Republik vergiftet und war auch für die Nationalsozialisten ein wichtiger Bezugspunkt für ihre Polemik gegen die demokratische Republik.
Frieden als Prozess
ZEIT ONLINE: Haben es Autokratien leichter als Demokratien, Frieden zu schließen, weil ihre Entscheidungen weniger hinterfragt werden können?
Leonhard: Von der frühen Neuzeit bis in das frühe 19. Jahrhundert konnten Monarchen, Fürsten und die aus aristokratischen Eliten rekrutierte Diplomatie jedenfalls Territorien und Bevölkerungen im Sinne eines Gleichgewichts der Mächte neu auf- und zuteilen, sei es mit dem Westfälischen Frieden 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, oder auf dem Wiener Kongress von 1814/15, der die Napoleonischen Kriege beendete. Sie mussten kaum Rücksicht auf medial verfasste Gesellschaften nehmen. Heute erwarten wir von einem Frieden viel mehr: nicht allein die Abwesenheit militärischer Gewalt, sondern Gerechtigkeit und die Anerkennung der Opfer, die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen. Das legt natürlich die Hürden für den Beginn von Verhandlungen extrem hoch und ist eine enorme Herausforderung für die Diplomatie.
ZEIT ONLINE: Sie beschreiben eindrücklich, wie lang der Weg zu einem Friedensschluss oft war. Ein extremes Beispiel ist der Dreißigjährige Krieg. Der Papst bot schon 1634 seine Vermittlung an. Eine Friedenskonferenz wurde aber erst 1641 einberufen – und endete erst 1648. In der westlichen Öffentlichkeit gibt es im Ukrainekrieg hingegen zunehmend die Vorstellung eines schnellen Friedens, zugespitzt in Donald Trumps Äußerung „Ich beende diesen Krieg an einem Tag“. Warum dauert es historisch betrachtet in der Regel so lange, bis Frieden geschlossen wird?
„Wenn die Tinte trocken ist, beginnt die Arbeit am Frieden“
Leohard: Das vielleicht wichtigste Kapital in solchen Verhandlungen ist Vertrauen. Was nützt Ihnen eine Unterschrift unter einen Waffenstillstands- oder Friedensvertrag, wenn Sie kein Vertrauen haben, dass das, was da steht, auch verlässlich umgesetzt wird? Das Misstrauen war oft berechtigt: Der sogenannte Frieden war oft nicht mehr als eine taktische Pause zur Wiederaufrüstung, um den Krieg bei nächster Gelegenheit wieder aufzunehmen. Sowohl nach dem Dreißigjährigen Krieg als auch nach 1918 ist das vielen Zeitgenossen auch bewusst, sie glauben zunächst nicht daran, dass jetzt wirklich Frieden herrscht und warten ab. Mit einer solchen Konstellation werden wir es auch heute zu tun bekommen.
ZEIT ONLINE: Gerade der Ukraine mangelt es an Vertrauen in Russlands Zusagen. Den Friedensschluss von Minsk 2015 hat Putin sehr schnell wieder gebrochen …
Leonhard: Minsk ist ein gutes Beispiel, denn die meisten Friedensverträge sind keine isolierten Ereignisse, sondern stehen in einer Reihe von Erfahrungen, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der betroffenen Länder eingegraben haben. Es gab französische Militärs, die bei der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags betonten, dass es sich allenfalls um einen Waffenstillstand für 20 Jahre handele. Und tatsächlich setzte sich die deutsch-französische Konfrontation ja bis zum Höhepunkt der Ruhrkrise 1923 fort. Der formale Friedensschluss ist nur ein Moment, aber der Frieden ist ein Prozess, er darf nicht statisch sein, sondern muss von der Kriegsgeneration und ihren Nachfolgern gestaltet werden. Ich glaube, vor einer ähnlichen Aufgabe wird man auch nach dem Ukrainekrieg stehen: Wenn die Tinte trocken ist, beginnt die Arbeit am Frieden.
„Das legt die Hürden noch einmal höher“
ZEIT ONLINE: Manche Kriege wollen gar nicht enden …
Leonhard: Ja, wenn Sie es historisch sehen, enden nach 1945 immer weniger Konflikte mit einem klassischen Friedensvertrag wie in Münster und Osnabrück, Wien oder Paris, sondern mit einem bloßen Waffenstillstand, weil die Akteure sich nicht durch einen großen Friedensvertrag völkerrechtlich binden wollen. Der Krieg wird gleichsam eingefroren, bis er wieder aufbricht oder wie zwischen Nord- und Südkorea in andere Gewaltformen übergeht, von lokalen Gefechten bis zu Terrorismus. So entstehen blutende Grenzen, taktische Pausen, Stellvertreterkonflikte. Es spricht aus meiner Sicht durchaus einiges dafür, dass das auch im Ukrainekrieg so sein könnte.
ZEIT ONLINE: Eine Besonderheit des gegenwärtigen Krieges ist, dass die Ukraine ihn als genozidalen Krieg wahrnimmt. In den von Russland besetzten Gebieten wird – neben allen anderen Grausamkeiten – die ukrainische Sprache unterdrückt, die Menschen werden zwangsrussifiziert. Ändert das nicht auch die Möglichkeit eines Friedensschlusses?
Leonhard: Das legt die Hürden noch einmal höher. Es geht hier nicht allein um die Aufteilung von Territorien und Bevölkerungen, sondern um die Existenz einer Nation. Dazu gehören genozidale Praktiken, die sich systematisch auch gegen das Gedächtnis einer Nation wenden. Mit dieser Intensivierung der Gewalt geht die Aufweichung der Trennung zwischen Militär und Zivilgesellschaft einher. Nach einer solchen Kriegserfahrung wird natürlich der Anspruch umso größer sein, dass ein glaubwürdiger Frieden Gerechtigkeit bringen soll.
ZEIT ONLINE: Sie schreiben auch, dass es einen großen Unterschied macht, ob es sich um einen bilateralen Krieg handelt, einen Krieg zwischen zwei Ländern, oder um einen, an dem direkt oder indirekt viele verschiedene Mächte beteiligt sind. Die Ukraine wird von über 50 Staaten militärisch und finanziell unterstützt, Russland von China, Iran und Nordkorea …
Leonhard: Ja, das macht es komplizierter. Sie haben einige politische und militärische Unterstützer genannt, aber wir sprechen auch von Ländern des sogenannten Globalen Südens wie Indien, Brasilien oder Südafrika, die versuchen, diese Situation zu nutzen, um eine Art von neuem Multilateralismus des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Der Krieg auf dem Boden der Ukraine wird von einem Energiekrieg, einem Medienkrieg und einem Krieg um die globale Deutungshoheit begleitet. Der Ukrainekrieg ist nicht ein Krieg allein um Territorium und Bevölkerungen, sondern auch um Selbstbilder, um Nationsbildung und postimperiale Praxis, um die internationale Ordnung im 21. Jahrhundert.
ZEIT ONLINE: Wenn man es jetzt einmal positiv wendet: Was würden Sie für einen möglichen Weg zum Frieden in der Ukraine halten?
Leonhard: Das schließt an das eben Gesagte an. Die Internationalisierung von Konflikten hat immer zwei Dimensionen. Die eine ist die sukzessive Eskalation, wie wir sie in den zwei Jahren gesehen haben. Aber Internationalisierung bedeutet immer auch die Möglichkeit der Deeskalation, auch wenn das im Augenblick nicht absehbar ist. China könnte aber irgendwann erkennen, dass die Entwicklung seinen Interessen, zum Beispiel an einer stabilen Weltwirtschaft als Voraussetzung erfolgreicher Exporte, zuwiderläuft. Zu einer gelungenen Internationalisierung und Deeskalation würden Vermittler mit einem robusten Mandat gehören, also der Möglichkeit, abgestimmte Bedingungen für einen Waffenstillstand oder nach einem Friedensschluss auch konkret umzusetzen, zur Not mit militärischen Mitteln, und das sehe ich im Augenblick nicht.
ZEIT ONLINE: Diplomaten und Wissenschaftler schlagen häufig einen Weg vieler kleiner Schritte vor, etwa dass man sich über Teilfrieden vorarbeitet. Gibt es dafür historische Vorbilder?
Leonhard: Ja, da war die Frühe Neuzeit schon mal ziemlich weit, etwa mit dem Instrument des Präliminarfriedens.
ZEIT ONLINE: Was ist das?
Leonhard: In einem Präliminarfrieden einigt man sich auf wenige konkrete Aspekte, um zunächst die akute Kriegsgewalt zu beenden. Eine solche Lösung geht über eine bloß temporäre Waffenruhe oder einen Waffenstillstand hinaus, weil sie die Grundlinien eines künftigen Friedens vorwegnimmt. Aber weil man absehen kann, dass ein großer Friedensschluss mit vielen Detailfragen lange dauern kann, klärt man in einem solchen Vertrag die leitenden Prinzipien. Im Ukrainekrieg gibt es solche Ansätze, etwa in dem Getreideabkommen über den sicheren Export von Getreide aus der Ukraine über das Schwarze Meer, das Russland 2023 wieder hat auslaufen lassen, oder in den Verhandlungen über den Austausch von Kriegsgefangenen. Es braucht Kontaktgruppen, die die Möglichkeiten solcher Schritte immer wieder neu ausloten. Aus meiner Arbeit zum Ersten Weltkrieg würde ich aber auch sagen: Man darf den Frieden nicht mit Erwartungen überfordern, man muss realistisch fragen: Was kann man sofort klären, was erst auf einer Friedenskonferenz und was vielleicht auch erst langfristig?