Veränderung in Syrien: „Die Ewigkeit ist vorbei. Endlich“

Wir leben in Zeiten, die uns einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in der Serie „Worüber denken Sie gerade nach?“ führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Die Fragen stellen Maja Beckers, Andrea Böhm, Christiane Grefe, Nils Markwardt, Peter Neumann, Elisabeth von Thadden, Lars Weisbrod oder Xifan Yang. Heute antwortet der Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh.

DIE ZEIT: Assad ist gestürzt. Sie leben seit elf Jahren im Exil. Worüber denken Sie gerade nach?

Yassin al-Haj Saleh: Ich bereite mich gerade darauf vor, nach Syrien zurückzukehren, nach elf Jahren und drei Monaten im Exil. Diese Aussicht erfüllt mich. In wenigen Wochen werde ich in Damaskus sein, wo mein Leben als Schriftsteller begonnen hat, und ich reise mit einer besonderen Mission …

ZEIT: … was ist das für eine Mission?

Saleh: Meine Frau Samira ist am 9. Dezember 2013 in einem Vorort von Damaskus von einer Miliz entführt worden, zusammen mit einer Menschenrechtsanwältin und einem Anwalt. Ich war damals bereits in meine Heimatstadt Rakka geflüchtet. Seither bin ich ohne Lebenszeichen von ihr. Samira und Syrien sind für mich untrennbar miteinander verbunden. Mein Besuch und meine Suche werden beiden gelten: meiner Frau und dem Land.

ZEIT: Haben Sie die Rückreise noch für möglich gehalten?

Saleh: Diese Reise war für mich noch vor zwei Wochen undenkbar. Meine syrische Geschichte war in einer fernen Vergangenheit versunken. Nun aber rollt sie plötzlich wie eine Flut auf mich zu, mit ihren mächtigen Wogen aus Hoffnungen, Ängsten, Anspannung – und Erinnerungen. Ich fühle mich wie überflutet. Erst seit zehn Tagen lebe ich mit dem Gefühl, ein reiches, erfülltes Leben gelebt zu haben. Die Ewigkeit ist vorbei. Endlich. Und so geht es nicht nur mir. Millionen von Syrerinnen und Syrern haben sich nun mit einer besonderen Mission auf die Suche nach ihren Nächsten gemacht.

ZEIT: Was genau ist es, was Syrien jetzt erlebt, ist es die Erfahrung von Freiheit?

Saleh: Wir erleben die wunderbare Erleichterung, das hässliche Kapitel der Despotie Assads beendet zu wissen, und wir erleben die Freude über einen Anfang. Wir gleichen nun Neugeborenen am Beginn ihres Lebens, und wir sind frei in dem Sinne, wie Hannah Arendt die Freiheit verstand: Sie begriff sie als Gebürtlichkeit. Menschen haben die Freiheit, neu anzufangen. Und deshalb bedürfen wir jetzt, neu auf der Welt, besonderer Fürsorge und Aufmerksamkeit. Wenn wir diese Anfänge überleben, kann es für uns zu einer emanzipatorischen Erfahrung werden. In jedem Anfang, sei er noch so gefährdet, liegt das Versprechen der Emanzipation.

ZEIT: Nach allen Ernüchterungen der Arabischen Frühlinge vergangener Jahrzehnte: Was ist Freiheit, wenn sie keine Illusion sein soll?

Saleh: Freiheit ist eine Dynamik der Überschreitung. Wer meint, in irgendeiner Gegenwart die Freiheit dingfest gemacht zu haben, ist nicht frei. Sie ist schöpferisch, in jedem Augenblick. Es ist, als hätten um unseren Hals Hände gelegen, die jederzeit zudrücken konnten, jetzt aber atmen wir wieder frei. Freiheit heißt auch, endlich trauern zu dürfen und würdig von denen Abschied zu nehmen, die wir verloren haben.

ZEIT: Wie kann die syrische Gesellschaft, die aus so vielen Gefangenen bestand, die Mauern der Angst abbauen?

Saleh: Das Land braucht nun die Erfahrung von Gerechtigkeit. Die großen Verbrecher müssen vor Gericht. Jede Verhaftung eines dieser Kriminellen kann der Gesellschaft zeigen, dass es vorangeht auf einem Weg, der das Land zu Würde und Respekt führt.

ZEIT: Sie selbst haben 16 Jahre und 14 Tage im Gefängnis verbracht und auch Folter erfahren. Im Verlies, so haben Sie vor Jahren geschrieben, haben Sie mehr gelernt als an der Universität von Aleppo, wo Sie Medizin studiert haben. Ist Ihr „Gefängnisdiplom“ jetzt für Sie hilfreich?

Saleh: Medizin war nicht meine Sache. Im Gefängnis bin ich zum Schriftsteller geworden und habe Englisch gelernt. Seither fühle ich mich der Welt der Ideen, der Philosophen und der Bücher zugehörig und vertraue mir selbst. Und so habe ich meine Ideen von einer Gesellschaft entwickelt, in der jeder Bürger gleiche Rechte genießt und in der die Würde jedes einzelnen Menschen garantiert ist. Ich habe meine Überzeugungen schon in der politischen Tauwetterphase des Frühlings von Damaskus eingebracht, die für mich als Schriftsteller prägend war, das waren die friedlichen Proteste weniger Hundert Menschen in den Jahren 2000 und 2001. Die syrische Revolution von 2011 kam dann wie eine Rache für diesen ersten Frühling.

ZEIT: Wenn Menschen in einer Despotie das politische Handeln verlernen, landen sie in politischer Armut. So lautete bis vor Kurzem Ihre Diagnose für Syrien. Und heute? Wie lässt sich diese Armut überwinden?

Saleh: Bei meiner Heldin Hannah Arendt lernt man, dass das Politische aus dem Handeln und der freien Rede besteht. Ich meine, es kommt auf die Freiheit, sich zu versammeln an, auf das freie Gespräch und die Freiheit, öffentliche Räume zum Protest zu nutzen. In diesem Sinne hat Syrien in schrecklicher politischer Armut gelebt. Die öffentlichen Sphären müssen wir jetzt neu beleben, friedlich, plural, in Respekt voreinander. Und weltlich. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Politik – nur das kann uns vor Extremismus schützen.