Die Türkei und Syrien: Ein Gewinn zu Gunsten von Erdoğan, ein Verlust zu Gunsten von die Türkei
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Die Türkei ist
einer der geheimen Akteure hinter dem Regimewechsel in Syrien. Die
militärischen und politischen Investitionen, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seit Jahren unternommen hat, haben sich jetzt ausgezahlt. Sein politischer Gewinn
aber könnte für die Türkei einen Verlust bedeuten.
Seit Ausbruch
des Bürgerkriegs in Syrien fürchtete die türkische Führung vor allem, jenseits der 910
Kilometer langen gemeinsamen Grenze zwischen beiden Ländern könnte de facto ein
kurdischer Staat entstehen. Um das zu verhindern, hat die türkische Armee in
fünf Militäroperationen binnen zehn Jahren eine Pufferzone jenseits der Grenze
gebildet und dort Militärstützpunkte eingerichtet. Der damalige syrische
Präsident Assad interpretierte diese Initiative als das Schaffen von „Vorposten
für die Unterstützung von Terroristen“.
Erdoğan wollte
durch die Ansiedlung eines Teils der in die Türkei geflüchteten Millionen Syrerinnen und Syrer
in dieser Pufferzone die kurdische Bevölkerung in der Region mit Arabern und
Turkmenen ausbalancieren und einen Einflussbereich für sich schaffen. Seit 2017
entstand in dieser Region unter dem Namen Freie Syrische Armee eine
dschihadistische Koalition. Die Organisationen innerhalb dieser Koalition
wurden von der Türkei mit Waffen, Ausrüstung und Ausbildung unterstützt. Wer –
wie ich – darüber berichtete und kritisierte, dass die Dschihadisten über
türkische Geheimdienstkanäle aufgerüstet werden, kam ins Gefängnis.
Die türkische
Regierung untergrub das Regime in Damaskus und sorgte auch gleich für eine
Alternative. Unmittelbar nach Ausbruch des Bürgerkriegs initiierte die Türkei die
Gründung einer syrischen Übergangsregierung und nahm diese bei sich auf. Syrien
war einst Teil des Osmanischen Reichs, nun wurden neo-osmanische Träume
lebendig. Erdoğan war derart von sich überzeugt, dass er bereits 2012
versprach, dereinst in der Omaijaden-Moschee in Damaskus zu beten. Assad sollte
so weit wie möglich geschwächt werden, um ihm weitgehende Zugeständnisse
abzunötigen. Darum auch verkündete Erdoğan erst im vergangenen Monat, als Syrien
bereits schwankte, er hoffe auf ein Treffen mit Assad. Der lehnte das Angebot
mit der Begründung ab, erst müsse die türkische Armee ihre Besatzung beenden.
Als dann das HTS (Hajat Tahrir al-Scham) ihre Offensive startete, sagte Erdoğan: „Wir haben keine
positive Reaktion auf unseren Appell erhalten. Jetzt hoffen wir, dass die
Opposition voranmarschiert.“
Das HTS ging zwar aus der von der Türkei
unterstützten Al-Nusra-Front hervor, ist aber ebenso wie die Freie Syrische Armee nicht unmittelbar von Ankara kontrolliert. Dennoch freuen sich die
Scharia-Anhänger in der Türkei darüber, dass nun Abu Mohammed al-Dschaulani die Macht
übernommen hat, der in seinem ersten Interview 2015 gesagt hatte, Syrien solle
nach Scharia-Gesetzen regiert werden. Wenn Al-Dschaulani jetzt im Anzug auftritt
und sich gemäßigt gibt, erinnert das an die klassische Taktik der
Dschihadisten. Die jüngere Geschichte hat in etlichen Staaten
wie Afghanistan, Irak oder Libyen gezeigt, dass radikale Islamisten, die
sich zunächst gemäßigt geben, das durch den Sturz laizistischer Diktatoren
entstandene Vakuum füllen. Auf dieser blutbefleckten Wippe scheint eine
demokratische Alternative keine Chance zu haben.
Die türkische Führung freut
sich noch aus einem anderen Grund über den Umsturz in Damaskus. Man hofft, die
(offiziellen Angaben zufolge) drei Millionen in die Türkei geflüchteten Syrer
kehren nun heim. Allerdings ist fraglich, wie viele tatsächlich zurückgehen
werden. Es wäre keine Überraschung, würde die Mehrheit der Menschen, die bereits
eingebürgert sind, in der Türkei bleiben.
Betrachten wir
die Ereignisse einmal nicht durch die Brille des politischen Islams, zeigt sich, dass
die Türkei über Nacht zu sogar zwei als terroristische Vereinigungen
eingestuften Nachbarn gekommen ist: An der Südgrenze der Türkei steht die
kurdische PYD – und jetzt auch das radikal islamistische HTS. Es ist nur eine Frage
der Zeit, bis die Widersprüche zwischen den Organisationen, die
bislang auf ein gemeinsames Ziel hin vereint vorgingen, aufbrechen – und es
zum Konflikt zwischen Kurden und HTS kommt …
Für diesen Fall hatte die türkische Führung im
Oktober einen interessanten Vorstoß unternommen und den seit 25 Jahren in
Isolationshaft festgesetzten PKK-Chef Abdullah Öcalan auftreten lassen. Devlet
Bahçeli, Chef der rechtsextremen MHP, hatte überraschend vorgeschlagen, Öcalan,
dessen Hinrichtung er noch vor ein paar Jahren gefordert hat, freizulassen und
ins Parlament einzuladen. Jetzt wird dieses Angebot, das seinerzeit für Furore sorgte, verständlicher: Die türkische Führung wollte mit Öcalan, der in der Region
über einen gewissen Einfluss verfügt, übereinkommen und selbst Einfluss auf die
Kurden in Syrien gewinnen. Um die Proteste nationalistischer Kreise
auszubremsen, war der Chef der ultranationalistischen Partei vorgeschickt
worden. Unterdessen laufen bereits Verhandlungen mit dem PKK-Chef im Gefängnis.
Vor einigen
Monaten äußerte Erdoğan, Benjamin Netanjahu hege Fantasien, die auch Anatolien mit
einschlössen. In Syrien wird nun, da Russland, die Hisbollah und der Iran dort nicht
mehr als Beschützer des Assad-Regimes dienen, der Druck Israels, das mit
den Kurden verbündet ist und auf den Golanhöhen vorstößt, um einiges stärker zu
spüren sein.
Noch etwas
dürfte Erdoğan Sorge bereiten: Es ist deutlich geworden, dass Thronsessel in
prächtigen Palästen, falscher Applaus in Parlamenten und imposante Armeen nicht
ausreichen, um Autokraten zu schützen. Das ist eine wichtige Lehre, die Erdoğan in seinem
prächtigen Palast beunruhigen dürfte, nachdem er die Türkei vom
Parlamentarismus entfernt, von der EU-Linie abgebracht und zu einem
autokratisch regierten Staat gemacht hat.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe