Turner Prize 2024: Schockt nicht mehr
Die gute Nachricht: Die Siegerin ist keine drogenabhängige, sexuell inkontinente Hedonistin. Jasleen Kaur hat den diesjährigen Turner Prize gewonnen, eine der wichtigsten Auszeichnungen für zeitgenössische Kunst, eine respektable Entscheidung. Die 38 Jahre alte Installationskünstlerin wuchs in einer Sikh-Familie in Glasgow auf und will mit ihrem Werk „kulturelle Erinnerung und politische Zugehörigkeit“ erkunden. Zu diesem Zweck steht in der Tate Britain, wo Werke der Nominierten gezeigt werden, unter anderem ein alter Ford Escort, bedeckt mit einer surreal großen Häkeldecke. Das Auto soll auf Kaurs Eltern, die nach Großbritannien eingewandert sind, verweisen, die Decke auf die Textilfabriken, in denen sie arbeiteten, die Musik aus Lautsprechern auf die multikulturellen Einflüsse, denen sie ausgesetzt waren. Die Botschaft für Diversität und Inklusion ist nicht zu übersehen oder überhören.
Die schlechte Nachricht: Die Siegerin ist keine drogenabhängige, sexuell inkontinente Hedonistin. Sie ist, wie auch die Entscheidung der Turner-Prize-Jury, absolut respektabel. Ihr Werk provoziert nicht, verärgert niemanden und sorgt für höflichen Applaus. Auch ihre Solidaritätserklärung für die Palästinenser konnte die wohltemperierte Atmosphäre bei der Preisverleihung in der Tate Britain gestern nicht aufheizen. Jenseits des Museums wird Jasleen Kaur deshalb umfassende Gleichgültigkeit entgegengebracht. Der identitätspolitische Ford bewegt die Briten nicht. Kaur wird genauso schnell in Vergessenheit geraten wie die Sieger der vergangenen Jahre.
Damit scheitert der Turner Prize zum wiederholten Mal jämmerlich an seinem Auftrag. Der besteht nämlich laut Satzung darin, die „öffentliche Debatte zu fördern“ über zeitgenössische britische Kunst. Eine Zeit lang klappte das legendär: In den Neunziger- und frühen Nullerjahren war die Verleihung des Turners ein nationales, ja internationales Ereignis. Die ausgestellte Kunst missfiel der Öffentlichkeit, sie entsetzte sie so sehr, dass das ganze Land mitredete: „Vom Adeligen bis zum Bettler, vom Taxifahrer bis zur Hausfrau in der Provinz – alle hatten eine Meinung“, schwärmt Mark Hudson, einer der bekanntesten britischen Kunstkritiker.
Das ist vorbei. Heute erregt der Preis kaum noch Aufsehen und erst recht keinen Streit mehr, denn die Kunst, die er auszeichnet, ist zu rechtschaffen geworden, zu korrekt und zu vorhersehbar. Was früher einmal großes Kino war, ist heute nur noch ein Thema unter Branchenkennern. Der Turner Prize hat sozusagen die Seiten gewechselt. Er war einmal „U“ und bot als wohl einziger Kunstpreis der Welt populäre Unterhaltung. Jetzt ist er wieder „E“, ernst, akademisch und zurück in der Nische.
Wie es dazu kam, verrät viel über die Launen des Zeitgeists. Der sorgte dafür, dass im abgerockten London der frühen Neunziger eine Energie entstand, die Großbritannien abermals zur kulturellen Weltmacht aufsteigen ließ. Der Turner Prize war damals wesentlicher Bestandteil der jungen, dreisten, coolen Londoner Szene, die den Hype um Cool Britannia begründete. Es war eine Zeit der fruchtbaren Fremdbestäubung. Die zeitgenössische Kunst profitierte von den fuchsteufelswilden Kritiken des Boulevards, vom Britpop, vom drogenberauschten Hedonismus, von Supermodels, von anarchischen Männermagazinen und vom vielen Geld, das in die City strömte.
Nach seiner Gründung 1984 dümpelte der Turner Prize fast zehn Jahre lang vor sich hin und wäre aus Mangel an Sponsoren und Interesse beinah eingegangen. Dann entdeckte der Fernsehsender Channel 4 das Unterhaltungspotenzial der jungen Kunst. Der Kanal senkte die Altersgrenze der Nominierten, erhöhte das Preisgeld und übertrug die Verleihung zur besten Sendezeit. Eine Gruppe unerschrockener Künstler aus der Arbeiterschicht drängte damals ins Rampenlicht. Der Anführer dieser sogenannten Young British Artists (YBAs) war Damien Hirst. Er hatte schon als Student mehrere erfolgreiche Ausstellungen in verfallenen Lagerhallen organisiert. Seine Mutter sagte damals dazu, dass sie sehr stolz auf Damiens Reparaturarbeiten in den Hallen sei, auf seine Kunst dagegen weniger.
Was die YBAs auszeichnete, war nicht nur das Spiel mit Sex, Perversion, Tod und Entsetzen, sondern auch ihr ausgeprägter Sinn für Kommerz. Ihre Kunst diente keinen hochgeistigen Konzepten, sondern der Produktion von Aufmerksamkeit. Im Werbetycoon Charles Saatchi fanden sie einen Förderer mit Mut zum Risiko und sehr viel Geld. Der Turner Prize kam wie gerufen und bot die ideale Bühne, um die prüden Briten das Fürchten zu lehren. Die konservative Presse biss an und produzierte tobsüchtige Verrisse, die auf den Titelseiten der Zeitungen erschienen, was den Künstlern Prominenz und Konjunktur verschaffte.