„Es gibt eine Krise des linksliberalen Selbst“
Manchmal erzählt eine Straße eine ganze Stadt. Im Roman „Caledonian Road“ zeichnet der Schriftsteller Andrew O’Hagan ein hochaktuelles Panorama der britischen Gesellschaft vor und nach dem Brexit. Eine Begegnung in London.
„Der Roman als solcher ist in seiner Form doch absolut spektakulär: Sie können den Leser in die Köpfe und Herzen von sechzig Charakteren hineinführen und damit ein literarisches Spannungsfeld von Offenbarung, Wahrheit, Unterhaltung schaffen, wie es keine andere Kunstform kann!“ Ein Satz wie dieser, den der Schriftsteller Andrew O’Hagan gerade sagt, klingt unwahrscheinlich an diesem Ort, wie fehl am Platz in einem schottischen Pub am unteren Ende der Caledonian Road im Norden Londons.
Es ist ein milder Tag zwischen Spätsommer und Frühherbst, im Innern des holzvertäfelten Eck-Pubs liegen die typischen Töne, Gerüche, Szenen solcher Londoner Pub-Nachmittage: verschüttetes Bier, Putzmittel, Abgase von draußen und vorüberziehende Feuerwehrsirenen, ein vereinzelter Trinker, der von seinem Pint nicht aufblickt, während die Pixies aus der Anlage laufen. Das Pub, wie fast jedes der älteren in London eine Institution für sich, ist wie eine Höhle, gebaut für die, die kurz der lauten Stadt entfliehen, ohne sich ganz aus ihr zurückzuziehen.
Keine fünf Minuten entfernt ist die Station King’s Cross mit den alten viktorianischen Bahnhofsgebäuden, in denen seit Mitte der 1990er-Jahre der Eurostar die Insel mit dem europäischen Kontinent verbindet, heute wie eine widerspenstige Erinnerung an die Vorbrexitzeit. Noch vor zehn, 15 Jahren reihten sich hier Western-Union-Filialen, unanständig billige Absteigen, Ein-Pfund-Läden, Stripclubs mit Rockabilly-Kneipen im Keller an Industrielagerhallen, immer noch wirkt die Gegend kleinteilig und wuselig, obwohl inzwischen gläserne Wohnblocks und bessere Hotels zeitgenössische Saturiertheit versprechen.
Die reale Caledonian Road
Ein paar Schritte weiter die Caledonian Road entlang beginnen die feineren nördlichen Stadtteile Camden und Islington. Als der englische Sozialreformer Charles Booth im späten 19. Jahrhundert eine Übersicht über die Sozialstruktur der Stadt verfasste, war dieser Bezirk der, in dem Arm und Reich am dichtesten beieinander lagen. Bis heute zeigt N1, wie der Bezirk nach dem Postcode heißt, eine selbst für Londoner Verhältnisse untypische Nähe von Sozialbauten und Villen, dem Gefängnis an der Pentonville Road und dem Familiensitz des späteren Premiers Tony Blair, verwitterten Waschsalons und postmodernen Gastropubs mit französisch verfeinerter britischer Küche.
Andrew O’Hagan, im Erscheinungsbild des intellektuellen Briten – die Kleidung komponiert, aber nicht zu betont zusammengesetzt, teure Schuhe, teure Brille, der Blick immer nah an der Ironie, auch sich selbst gegenüber – blinzelt aus dem Fenster in die Sonne: „Ich bin hergekommen, als ich 21 war, ein junger Mann. Der Bus aus Glasgow hielt nur zwei Minuten von hier. London war damals eine andere Welt, es war noch das Nachkriegslondon: Kopfsteinpflaster, Gasometer, überall eine gewisse Abgewracktheit. Der Charakter dieser Straße hat sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert – genauso wie sich Großbritannien verändert hat. Das wollte ich in meinem Roman einfangen.“
„Caledonian Road“ ist das, was man in England eine State-of-the-Nation-Novel nennt, einen Roman, der die Lage der Nation, die gesellschaftliche Stimmung und ihre politischen Wendepunkte einfängt. Jonathan Coe hat mit „Middle England“ vor fünf Jahren einen solchen geschrieben, davor gibt es Beispiele von Sam Byers oder John Lanchester, das Genre ist ein fester Bestandteil der britischen Literaturlandschaft. Ja ja, wird am nächsten Tag ein englischer Freund leicht spöttisch bemerken, vermutlich muss jeder unserer Schriftsteller einmal in seinem Leben einen State-of-the-Nation-Roman schreiben. Warum eigentlich?
Warum versucht man, auf rund 700 Seiten, denen ein Glossar der sechzig verschiedenen Charaktere vorangestellt ist, sich am alleraktuellsten Zustand des Landes literarisch abzuarbeiten? Und warum schreibt man, wenn man wie Andrew O’Hagan auch ein einflussreicher Journalist und preisgekrönter Sachbuchautor ist, keinen Essay, sondern ausgerechnet einen Roman? „Es ist so viel passiert“, sagt O’Hagan knapp, „lange nicht nur der Brexit oder Covid.“
Wer die letzten zwanzig Jahre in Großbritannien verfolgt hat, weiß, was er meint, die einzelnen Kapitel in der politischen Entwicklung des Landes: die popkulturelle Öffnung in den Blair-Jahren, deren Schlagwort „Cool Britiannia“ nur unzureichend die veränderte Mentalität der New-Labour-Zeit beschreibt, dann die Annäherung von Labour an eine Form von amerikaorientierten Neoliberalismus, gefolgt von verschiedenen Variationen des Konservativen und Neokonservativen unter David Cameron und Boris Johnson. Die europhilen Liberal Democrats, die nach einem kurzen Moment der Popularität in der Bedeutungslosigkeit verschwanden. Die orientierungslosen Nachzügler der früheren Tories, Liz Truss und Rishi Sunak.
Und nun Keir Starmer, der nach einer kurzen Beliebtheitsblüte Mühen hat, neue Akzente zu setzen, die über kleinteiligen Streit wie den über die „winter fuel allowance“ für Pensionäre hinausreichen. Das, was einmal klar benennbar war – nicht einfach politische Positionen, sondern ein politisches Programm, ein ideologischer Überbau, eine Gesellschaftsidee –, scheint auf beiden Seiten des Parlaments immer schwerer zu fassen, fast inexistent. Was der Kipppunkt dafür gewesen sei? O’Hagan überlegt. „Ich glaube, der Irakkrieg war so ein Punkt. Die Linksliberalen begannen, sich zu irren, und es entstand eine Art Koalition der Selbstzufriedenheit. Liberalismus, also Linksliberalismus und Elitismus wurden eins, dazu kam ein Gefühl der Überlegenheit. Die Islingtoner Elite dieser Gegend wurde sozusagen moralisch fett von der Idee, dass sie über jeden Vorwurf erhaben sei und absolut rechtschaffen. Ich denke, diese Haltung hat sehr viel Schaden angerichtet.“
O‘Hagan porträtiert ein Milieu
„Caledonian Road“ erzählt die Geschichte von Campell Flynn, einem erfolgreichen Kunsthistoriker und öffentlichen Intellektuellen und seiner schillernden Familie. Flynn ist Anfang fünfzig, stammt aus ärmlichen schottischen Verhältnissen und zählt zur intellektuell-politischen Elite, er unterrichtet an der von Cancel-Culture-Verrücktheiten gezeichneten Top-Universität, schreibt Bücher und als Ghostwriter einen ironisch-postmaskulinistischen Superbestseller „Why Men Weep in Their Cars“. Seine Frau ist die Tochter einer wohlhabenden und scharfsinnigen Gräfin, sein bester Freund ein unseriöser, leutseliger Industrieller.
Flynns Leben ist durchgetaktet in hochklassige Vortragsreisen, Vernissagen und Society-Events. Er erscheint als ein so typischer Vertreter einer feinen Gesellschaftsschicht, vielleicht eines Typus, den es nur in London geben kann, dass man in London ständig glaubt, einem wie ihm zu begegnen: Beim Radiohören der Gesprächssendungen auf Radio Four, beim Dinner in den hinteren Räumen des traditionsreichen „Guinea Grill“ in Mayfair, wo bucklige Kellner in Westen altertümlich blutiges Steak servieren oder bei einem schnellen Abstecher zu Daunt’s Books auf der Marylebone High Street.
Nein, es sei ihm nicht darum gegangen, eine bestimmte soziale Schicht zu porträtieren oder gar zu kritisieren, sagt O’Hagan in seinem klaren schottischen Tonfall. Eher darum, Charaktere zu erschaffen, die aus sich selbst heraus von unserer Zeit erzählen können. Oder ist der Roman, an dem er zehn Jahre gesessen hat, nicht auch eine Selbstbefragung? „Jetzt haben Sie mich ertappt“, lacht Andrew O’Hagan, der ähnlich wie seine Hauptfigur in einfachen Verhältnissen im schottischen North Ayrshire aufgewachsen ist und jetzt, mit Anfang, Mitte fünfzig, zu den wichtigsten Playern des intellektuellen Londons zählt: ein vielfach ausgezeichneter Autor und Herausgeber der altehrwürdigen Literaturzeitschrift „London Review of Books“. „Es stimmt. Campbell Flynn hat viel von mir – wobei er deutlich größer ist als ich.“ Er sei, wie man sage, „a good liberal“ – was das bedeute, habe ihn interessiert, sagt O’Hagan.
Was meint „liberal“, wenn man es nicht nur politisch fasst? Eine ganze Generation von Leuten auf der Linken, die sich immer auf der richtigen, progressiven Seite der Geschichte gesehen haben, seien an ihren eigenen Ansprüchen, vielleicht auch an ihrem Selbstbild gescheitert oder haderten wenigstens mit ihm, sagt O’Hagan. „Das ist universell. Meine Generation – diejenigen, die in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren geboren sind – wollten die Institutionen verändern. Aber haben wir das wirklich geschafft? Oder leben wir nur einfach inzwischen in immer teureren Häusern? Es ist sicher nicht so, dass uns kein Fortschritt gelungen ist, aber eins steht fest: Es gibt eine Krise des linksliberalen Selbst in unserer Gesellschaft.“ Irgendwann käme dann die nächste Generation vorbei und fordere einen heraus.
Im Roman ist das der Student Milo Mangasha, Anfang zwanzig, der zunächst Campbell Flynns Universitätsassistent wird, um ihn dann zu hintergehen, was Flynn nicht bemerkt, weil er zu sehr beschäftigt ist mit seinem depressiven Ekel vor sich selbst und seinem Bedeutungsverlust: „Er fühlte sich abgeschnitten von seiner Realität“, heißt es an einer Stelle, „ein Mann, der immer an die Stabilität dessen, der er war, geglaubt hatte.“
Ein Konflikt der Generationen?
Zeigt sich also im heutigen Großbritannien ein Generationenkonflikt? „Ich denke, Milo Mangashas Generation fällt es genauso leicht, ihre Leben zu performen wie sie zu leben – Campell Flynns Generation dagegen kann ihr Leben immer nur als Ausdruck von echten Erfahrungen, von Wahrheit verstehen. Flynn schreibt ein Buch über Vermeer – das heißt ja eigentlich, über das Nichts zu schreiben, denn kaum einer weiß wirklich etwas über Vermeer. Und trotzdem schreibt er eine Biografie über ihn! Flynn glaubt an die Idee eines wahrhaftigen Selbst. Millennials und die Gen Z – und das sage ich als Vater einer 20-jährigen Tochter – sind fluide in ihrem Verständnis von Realität; die Vorstellung einer essenziellen Wahrheit macht sie nervös. Im Roman spürt Flynn es, dass seine Welt ins Wanken gerät und dass die Jungen daraus ihre Vorteile zu ziehen wissen.
Auch als Mann ist Flynn stehen geblieben: Seine Krise ist auch eine Krise der Männlichkeit, die an ein Ende gekommen scheint.“ Der Roman dagegen liest sich flüssig, lebhaft, wenigstens im englischen Original wie eine gut komponierte Gesellschaftssatire. Was traut O’Hagan der Form literarisch zu? „Ich wollte wirklich den Roman noch mal neu bestimmen“, sagt O’Hagan, „und ein Leseerlebnis schaffen. Ich dachte mir, es muss doch ein Interesse geben an einem Buch, das unsere Gesellschaft im Hier und Jetzt beschreibt und uns vielleicht auch dabei hilft, unsere Leben zu leben.“
Also hat er doch einen politischen, vielleicht sogar einen moralischen Anspruch als Schriftsteller? Na ja, entgegnet O’Hagan, für einen Schriftsteller, der wie er sowohl literarisch als auch journalistisch arbeite, ginge es immer darum, die Fiktion mit den Fakten zu verbinden. Es gebe andere literarische Kulturen, die damit vorsichtiger, skeptischer umgingen als die britische. „Fontane oder Döblin haben ein ganz anderes Verständnis von Realität als Dickens – ein viel fragmentarischeres, moderneres Verständnis der Wirklichkeit. Wir dagegen versuchen, eher aus der rohen Realität Szenen zu schaffen.“
Ist sein Roman also Ausdruck eines politischen Realismus, entlang erzählt an einem Charakter, der der Realität nicht mehr traut? „Ich habe über einen Mann geschrieben, der auseinanderfällt. Natürlich muss er sich fragen, was er verändern kann, um wieder zu sich zu finden.“ Es sei besser, sagt Andrew O’Hagan noch bevor er der Nachmittag im Pub zu Ende geht und er auf die laute Straße tritt, mit dem Finger erst mal auf sich zu zeigen und nicht auf andere. Dazu habe man eine Verpflichtung, schon allein sich selbst gegenüber.
Andrew O’Hagan: „Caledonian Road“. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. Park x Ullstein. 784 Seiten, 30 Euro.
Mara Delius ist Herausgeberin der „Literarischen Welt“.
Source: welt.de