„In welcher Leber kommt eine große Menge Pilzgift an – wie ein Tsunami“
Drei Menschen haben nach einer schweren Pilz-Vergiftung eine neue Leber transplantiert bekommen. Ein Leber-Spezialist erklärt, was Giftpilze in den Organen anrichten – und warum man auf die Niere ebenfalls besonders achten muss.
Professor Heiner Wedemeyer beschäftigt sich mit entzündlichen und viralen Erkrankungen der Leber und des Gastrointestinaltrakts. Er ist seit 2020 Direktor der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie, Infektiologie und Endokrinologie an der Medizinischen Hochschule Hannover.
WELT: Was macht den Knollenblätterpilz so extrem gefährlich?
Heiner Wedemeyer: Das sind insbesondere die hochgiftigen Amatoxine. Sie verursachen schwere Leberschäden. Es reicht schon eine kleine Pilzmenge, um lebensgefährlich zu sein. Wer in einen großen Knollenblätterpilz reinbeißt, bekommt schon so viel Gift ab, dass es reicht, ihn umzubringen. Und es macht keinen Unterschied, ob der Pilz roh verzehrt, vorher gebraten oder gekocht wurde, denn die im Knollenblätterpilz enthaltenen Toxine sind hitzestabil. Darüber hinaus ist der Verlauf der Vergiftung tückisch.
WELT: Was sind denn erste Anzeichen, die auf eine Vergiftung mit einem Knollenblätterpilz schließen lassen?
Wedemeyer: Man merkt es nicht sofort. Zumeist vergehen vier bis sechs Stunden, manchmal dauert es aber auch länger bis erste Symptome auftreten. Das sind zunächst unspezifische Magen-Darm-Beschwerden wie Erbrechen, Übelkeit und Durchfall. Heimtückisch ist, dass sie sich nach ein bis zwei Tagen erstmal bessern. Dabei war das nur das Vorspiel, denn die Amatoxine sind zu diesem Zeitpunkt bereits zur Leber und dort in die Leberzellen gelangt. Die Schädigung von Leber und Niere schreiten dann fort, ohne dass es anfangs bemerkt wird. Erst nach zwei bis vier Tagen treten dann Symptome auf, die die Leberschädigung anzeigen: Gelbsucht, dunkler Urin, innere Blutungen, Schwäche und Verwirrtheit sowie Leberversagen.
WELT: Was kann man dann machen?
Wedemeyer: Um all das abzumildern, sollte möglichst frühzeitig mit gelöster Aktivkohle behandelt werden. Sie bindet die Amatoxine im Verdauungstrakt bevor sie ins Blut gelangen. Das Mariendistelpräparat Silibinin hemmt die toxischen Effekte in den Zellen etwas. Der Faktor Zeit ist extrem wichtig. Wer abwartet, hat ein hohes Risiko, dass er nicht überlebt.
WELT: Was genau richten die Pilzgifte im Körper an?
Wedemeyer: Knollenblätterpilze verfügen zum einen über Phallotoxine, die zu Beginn der Pilzvergiftung die typischen Magen-Darm-Symptome wie Durchfall und Erbrechen verursachen. Sie bewirken, dass sich die Zellen der Darmschleimhaut auflösen. Dabei wird viel Flüssigkeit freigesetzt. Deutlich gefährlicher als die Phallotoxine sind aber die Amatoxine. Sie werden aus dem Darm ins Blut aufgenommen und können zu schweren Organfunktionsstörungen führen. Die Amatoxine blockieren ein Enzym in den Zellen, das gebraucht wird, damit überhaupt Protein hergestellt werden kann. Auch die Niere als Ausscheidungsorgan bleibt nicht unversehrt. Da die Amatoxine auch die Nierenzellen schädigen, gehen diese ebenfalls zugrunde. Im schlimmsten Fall kann es zu Multi-Organ-Versagen kommen.
WELT: Warum ist gerade die Leber so stark betroffen?
Wedemeyer: Wenn die Amatoxine des Knollenblätterpilzes aus dem Verdauungstrakt ins Blut aufgenommen wurden, gelangen sie direkt über die Pfortader in die Leber. Da die Leber stark durchblutet wird, kommt eine große Menge Pilzgift an – wie ein Tsunami. Die Wirkung der Amatoxine führt dazu, dass die Proteinsynthese in den Leberzellen gehemmt oder sogar gestoppt wird. Viele Leberzellen können dann ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen, es treten Entzündungsreaktionen auf, die Leberzellen sterben ab.
WELT: Wie geht es weiter?
Wedemeyer: Dann kommt es zu einem fulminanten Verlauf bis hin zu akutem Leberversagen. Das hat zur Folge, dass die vorübergehend lahmgelegt ist. Ist die Leberfunktion stark geschädigt, dann hat das für den restlichen Organismus negative Folgen. Immerhin ist die Leber das wichtigste Organ des Menschen. Sie ist Kraftwerk, Speicherorgan und Klärwerk in einem. Als Klärwerk und Gift-Schadstoff-Filter spielt sie eine zentrale Rolle bei der „Entgiftung“ des Blutes.
WELT: Wieso konnten in diesem Fall so schnell Lebern transplantiert werden, während andere Menschen mitunter über Jahre auf ein neues Organ warten?
Wedemeyer: Wenn die Leber stark geschädigt ist, stellt sich für die behandelnden Ärzte die Frage: Hat das Organ eine Regenerationschance oder verfällt es. Bei Letzterem hilft nur noch die Lebertransplantation. Das ist im Alltag eine klinische Herausforderung Erfahrung, klinische Scores, Laborwerte, Parameter, die anzeigen, ob eine Transplantation nötig ist. Reicht vielleicht doch eine wiederholte Plasmapherese?
WELT: Das müssen Sie erklären.
Wedemeyer: Das ist ein Verfahren zum Austausch des Blutplasmas. Wir möchten nicht unnötig eine Leber transplantieren. Diese Spenderorgane sind schließlich eine extrem knappe Ressource, aber wir wollen auch, dass der Patient überlebt.
WELT: Wie geht man dann vor?
Wedemeyer: In besonders kritischen Fällen wie akutem Leberversagen infolge einer Knollenblätterpilz-Vergiftung gibt es die Möglichkeit, den Patienten bei Eurotransplant als High-Urgency-Fall (HU) zu melden. Dann besteht die Chance, innerhalb weniger Stunden oder Tage eine Spenderleber beziehungsweise bei Kindern einen Leberlappen zu bekommen. Aber das ist ja gar nicht so einfach. Es muss ja alles passen: Blutgruppe, Größe des Organs insbesondere bei Kindern, und sie können einem Kind auch nicht die Leber eine 80-Jährigen einpflanzen. Es kann auch nur jemand als High-Urgency-Fall gemeldet werden, wenn er nicht bereits zuvor einen chronischen Leberschaden hatte wie beispielsweise eine fortschreitende Vernarbung der Leber oder eine Leberzirrhose. Die am Universitätsklinikum Essen behandelten Personen waren HU-gemeldet. Deshalb haben sie erfreulicherweise so schnell ein Spenderorgan erhalten.
WELT: Wie sind die Überlebensaussichten nach einer Transplantation bei einer Knollenblättergift-Vergiftung?
Wedemeyer: Die Patienten bekommen eine gesunde Leber transplantiert. Die einzigen Probleme können infolge der Immunsuppression entstehen. Ein unterdrücktes Immunsystem erhöht das Risiko für Infektionen, aber auch für Krebs. Es ist aber notwendig, um eine Abstoßungsreaktion zu verhindern. Dennoch sind die Überlebensaussichten der transplantierten Menschen gut. Normalerweise leben sie 20, 30, 40 Jahren mit dem Spenderorgan.
WELT: Wird nicht auch die Niere geschädigt?
Wedemeyer: Doch, leider kann das Pilzgift auch die Niere schädigen. Die Giftigkeit der Amatoxine auf die Niere wird mitunter unterschätzt. Sie sollte gleich zu Beginn einer Vergiftung entsprechend mitbehandelt werden. Vor etwa zwei Jahren bekam eine unserer Patientinnen eine Spenderleber. Leider erholte sich ihre Niere von der Giftflut nicht mehr, so dass sie deshalb langfristig eine Nierendialyse braucht.
WELT: Verursachen andere Pilze ähnlich schwere Erkrankungen?
Wedemeyer: Nicht was die Leberschädigung anbelangt. Es gibt zwar diverse andere Pilze, die ebenfalls Magen-Darm-Symptome verursachen. Aber das schwere Leberversagen tritt spezifisch beim Knollenblätterpilz auf. Die Amatoxine haben einfach einen katastrophalen Effekt auf die Leberzellen. Deshalb ist es ratsam, den Inhalt eines Pilzkorbes von einem Experten anschauen zu lassen, bevor man sie verspeist. Der hat einen geschulten Blick für die Killer-Pilze.
Source: welt.de