Kreuzfahrtindustrie: Die geheimen Zweitwohnungen jener Reichen hinaus hoher See

Am 13. März 2020 wurde dem Kreuzfahrtschiff Braemar die Anlegeerlaubnis auf den Bahamas verweigert, weil einige der Passagiere an Bord positiv auf Covid-19 getestet worden waren. Das Schiff war gezwungen, die Karibik zu umfahren, bis schließlich Kuba die Passagiere aufnahm, von wo sie nach Großbritannien evakuiert wurden.

Die Braemar war nur eins von einer Reihe Kreuzfahrtschiffen, auf denen Passagiere sich in diesen unsicheren Tagen auf See in Quarantäne wiederfanden. Die Diamond Princess lag einen Monat lang in Japan vor Anker, als das Virus sich auf dem Schiff ausbreitete. 700 Menschen infizierten sich, neun starben. Auf einem anderen Schiff, der Ruby Princess, waren 28 Tote zu beklagen. Es war eine nautische Horror-Show.

Fast über Nacht verwandelten sich die Ozeanriesen in Schmelztiegel des Todes. In den folgenden 24 Monaten wurden 35 Kreuzfahrtschiffe nach Aliağa in der Türkei geschickt, dem maritimen Friedhof, in dem Schiffe abgewrackt und als Schrott verkauft werden. Mehrere große Kreuzfahrtgesellschaften gingen in Konkurs, und einige Beobachter vertraten die Ansicht, dass die weltweit 150 Milliarden US-Dollar schwere Kreuzfahrtindustrie praktisch untergegangen sei.

Das Comeback der Kreuzfahrtindustrie

Und doch verließ die Braemar kürzlich unter einem neuen Namen die schottische Stadt Belfast und startete auf eine dreieinhalb Jahre lange Kreuzfahrt um die Welt. Sie läutete damit eine neue Ära der Langzeitkreuzfahrten ein oder, anders ausgedrückt, des Lebens auf See.

2023 von der Firma Villa Vie Residences aufgekauft, heißt das Kreuzfahrtschiff jetzt „Odyssee“. Neben den derzeit 125 Passagieren hat das Schiff noch ein paar schwerwiegende Omen an Bord. Belfast war der Hafen, in dem die Titanic gebaut wurde. Hier lief sie zu ihrer schicksalshaften Jungfernfahrt aus. Außerdem ist die Odyssee nach Homers epischem Gedicht benannt, in dem sein Held Odysseus zehn Jahre lang im Mittelmeerraum herumzog.

Das Schiff, das eigentlich am 30. Mai auf große Fahrt gehen sollte, wurde bereits mit einigen Hindernissen konfrontiert, ähnlich wie Odysseus. Es war kein Zyklop und auch keine Sirenen, die sie aufhielt, sondern Probleme mit dem Ruder und dem Getriebe. Zusammen dauerten die Reparaturen vier Monate lang. Den Fahrgästen blieb nichts anderes übrig, als die sommerlichen Freuden von Belfast zu genießen, einer Stadt, die bisher noch nicht für ihren sonnigen blauen Himmel bekannt ist.

„Noch nie in meinem Leben habe ich meinen Schirm so viel gebraucht“, erklärt Holly Hennessy, ihres Zeichens „Kreuzfahrt-Süchtige“ aus Florida, die für den Sommer in Edinburgh in ein Hotel ziehen musste.

20 Decks und ein Wasserpark: Willkommen auf der Icon of the Seas

Alles zusammen wird die Reise in etwa so viel Zeit dauern, wie zwischen dem letzten großen Lockdown und heute liegt. In diesem Zeitraum hat die Kreuzfahrtindustrie es geschafft, ein aufsehenerregendes Comeback zu feiern. Anfang des Jahres nahm die Reederei Royal Caribbean das größte Kreuzfahrtschiff der Welt in Betrieb, die gigantische Icon of the Seas, mit mehr als 7.500 Passagieren und Besatzungsmitgliedern, 20 Decks, einem überdachten Wasserpark und einem echten Park.

Während diese modernen Meeresmonster mit ihren schrillen Vergnügungsangeboten ein häufig unliebsames Zeichen für die Wiederauferstehung von Kreuzfahrten sind, verweist die nur etwa ein Zehntel so große Odyssee auf einen anderen Trend. Hier geht es weniger um eine Auszeit zum Vergnügen als um ein Überdenken des Lebensstils. Hauptsächlich scheint es darum zu gehen, dass noch besser als ein Zuhause am Meer ein Zuhause auf dem Meer ist.

Dieses Zuhause hat einen Preis zwischen 99.999 US-Dollar (92.000 Euro) und 899.000 US-Dollar (826.500 Euro), je nach Größe und Komfort der Kabine. Allerdings sind derzeit nur noch die mittleren Kategorien erhältlich und zwei Drittel der Kabinen bereits verkauft oder vermietet. Eigentum wird vertraglich für ein Minimum von 15 Jahren garantiert (mindestens vier Weltumrundungen) oder, wenn länger, solange, wie das Schiff auf Fahrt geht (es ist bereits 31 Jahre alt). Eigentum bedeutet, dass man seine Kabine individuell ausstatten kann, kommen und gehen kann, wie man möchte, und sie auch vermieten darf.

Das mag wie eine radikale Entwicklung in der Geschichte der Meer-Kreuzfahrt klingen, wurde aber schon einmal versucht.

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2002 wurde das Kreuzfahrtschiff „The World“ fertiggestellt. Zuvor gab es eine mehrjährige, auf reiche Kunden abzielende Verkaufskampagne für die Idee, Vollzeit auf einem Luxus-Kreuzfahrtschiff zu leben. Auch damals hatten die Interessenten die Wahl zwischen kaufen und mieten. Aber schon ein knappes Jahr nach Beginn schien das Projekt dem Ende nah. Die Mischung von reichen Langzeit-Besitzern und Kurzzeit-Gästen erwies sich als nicht seetüchtig.

Eine Eigentümerin erklärte damals: „Wenn man nur Hotelgast ist, geht man einfach weniger sorgfältig mit einem Ort um, als wenn man dort Zuhause ist.“

Tatsächlich ging es natürlich um die Exklusivität. Die sehr Reichen teilen sich noch einmal in zwei Gruppen, die als „die Besitzenden und die Yacht-Besitzenden“ bekannt sind. Und die Leute, die zwar reich, aber nicht in der Super-Yacht-Besitzer-Klasse sind, wollen eine Residenz nicht mit Touristen teilen, wie gut sie sich auch immer benehmen.

Daher wurde das Geschäftsmodell der World nach Art der elitären Wohnungsgenossenschaften im New Yorker Stadtteil Manhattan neu aufgelegt, sodass jetzt jeder Apartmentbesitzer einen Anteil am Eigentum und am Betrieb des Schiffes hat. Die Eigentümer können potenzielle Käufer vorab prüfen und so sicherstellen, dass keine unwillkommenen Typen dabei sind, die mit der falschen Badehose den guten Stil in der Nachbarschaft verderben könnten.

Wie wäre es mit einem Vollzeitleben auf einem Luxusdampfer?

22 Jahre später fährt „die einzige Wohngemeinde auf See“, wie die World sich selbst nennt, immer noch um die Welt. Nach so langer Zeit könnte man meinen, dass die Gefahr nicht darin besteht, seekrank zu werden, sondern vom Meer genug zu haben. Aber niemand ist die ganze Zeit über dort. „Unsere Eigentümer halten ihre Kabinen im Schnitt sieben Jahre“, heißt es aus der World-Vertriebsabteilung, „obwohl wir auch einige haben, die von Anfang an dabei sind.“

Die Route des Schiffes wird von einem Bewohner-Komittee entschieden, wobei es alle zwei oder drei Tage anlegt und mindestens drei Jahre lang nicht an den ursprünglichen Starthafen zurückkehrt. In der Realität ist die World kein Zuhause, sondern eine Zweitwohnung. Die meisten Bewohner sind rund vier Monate übers Jahr verteilt an Bord, sehr häufig zwei Monate im Sommer und zwei weitere um Weihnachten herum.

„Wir haben eine sehr vermögende Gemeinschaft“, erklärt eine Verkäuferin bei World. „Um zu kaufen, ist ein Nettovermögen von 10 Millionen US-Dollar Voraussetzung.“ Für die Leute hier sei es wahrscheinlich die zweite, dritte oder vierte von mehreren Immobilien, die sie bewohnen.

Anfang Oktober befand sich die World in der Nähe von Papua New Guinea auf dem Weg Richtung Australien, aber in gewisser Weise könnte sie irgendwo sein, unbelastet von normalen Sorgen. Denn die World ist eine Auster voll mit perlengeschmückten Bewohnern, einer mobilen und doch geschlossenen Gesellschaft, die sich ständig zwischen dem einen oder anderen Nicht-Ort bewegt.

Das Drama um die Kreuzfahrtmarke Life at Sea

Es war der französische Anthropologe Marc Augé, der eine Unterscheidung zwischen Orten und Nicht-Orten machte. Ein Ort stärkt die Identität der Menschen; er ist irgendwo dort, wo sich durch gemeinsame kulturelle Referenzen soziale Gruppen bilden. Im Gegensatz dazu ist ein Nicht-Ort ein Ort der Vergänglichkeit, an dem die Leute anonym bleiben. Als Beispiele nennt Augé Autobahnen, Hotelzimmer, Flughäfen und Einkaufszentren.

Für die sozial eng definierte Gruppe der Schiffbewohner müssen die Häfen und Menschen, die sie besuchen, am Ende in eine Reihe von nicht zu unterscheidenden Kulissen werden: Es ist Donnerstag, das muss Bora Bora sein.

Trotzdem hofften kürzlich zwei weitere Schiffe, dem Beispiel der World zu folgen. Beide wurden wie das Original von jeder Menge Werbung angetrieben. Das erste Schiff kam von einem Unternehmen namens Life at Sea. Versprochen wurde eine dreijährige Kreuzfahrt mit Halt in 135 Ländern und an 375 Zielorten. Zielgruppe waren nicht nur ältere Bürger, sondern auch junge digitale Nomaden, die dank erstklassiger Internetbedingungen von überall auf hoher See arbeiten können würden. Dem Paket fehlte nichts, außer, wie sich herausstellte, ein Schiff. Eine Kleinigkeit, die die grandiosen Pläne schließlich zunichtemachte.

Die Erste, die sich für die später abgesagte Kreuzfahrt angemeldet hatte, war die frühere Stewardess Meredith Shay. Sie war nicht die Einzige, die ihre Wohnung aufgegeben und die meisten ihrer Besitztümer verkauft hatte, um die Reise zu finanzieren. Sie bezahlte 562.000 US-Dollar (516.000 Euro) für eine Kabine im siebten Stock mit Balkon. Aber Life at Sea saß auf dem Trockenen und gegen Ende vergangenen Jahres musste das Unternehmen zugeben, dass niemand irgendwohin fahren würde.

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Einer der Leute, die an Life at Sea beteiligt waren, war Mikael Petterson, der heute CEO des Unternehmens ist, das hinter der Odyssee steht. Aber seine Geschichte ist nicht die einzige in diesem Zusammenhang. Da ist auch noch die Narrative. Das ist der neue Name eines Privatresidenzschiffes, das von Storylines Cruises in Auftrag gegeben wurde und eigentlich noch dieses Jahr in See stechen sollte. Allerdings muss die MV Narrative, die mit Flüssigerdgas betrieben werden soll, noch gebaut werden und wird nicht vor 2027 fertig sein.

Dennoch begannen vor zwei Jahren Geschichten zu zirkulieren, dass Leute sich in das noch fiktive Schiff einzukaufen begannen. Das Ehepaar Beth und Mark Hunter erzählten, sie hätten für eine Million US-Dollar ein Zwei-Zimmer-Apartment gekauft, damit ihre Töchter, die damals 12 und 14 waren, die Welt sehen könnten. Wenn das Schiff den Hafen in Kroatien wie geplant verlassen wird, wo er gebaut wird, werden sie 17 und 19 sein – ein Alter, in dem finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern häufig Voraussetzung für weltweites Reisen ist.

Die Preise für Wohneinheiten auf dem Schiff bewegen sich laut Berichten in einer Spanne von 300.000 bis acht Millionen US-Dollar (275.000 – 7,4 Millionen Euro). Wobei die Frage, warum jemand, der sich acht Millionen Dollar leisten kann, die gemeinschaftlichen Aufenthaltsräume mit den Bewohnern von 529 anderen Kabinen teilen möchte, wohl ein Mysterium bleiben wird.

Die Attraktivität von Kreuzfahrten ist nicht erst heute ein Thema, das spaltet: Das prächtige Traumschiff der einen war schon immer das umweltverschmutzende Gefängnisschiff der anderen. Vielleicht besteht auch der eigentliche Reiz eines Zuhauses auf See nicht darin, die Welt zu sehen, sondern ihr zu entkommen. Mit der Erwärmung des Planeten und ausbrechenden Kriegen ist die Versuchung, sich den pazifischen Weiten des Meeres zuzuwenden, nicht schwer zu verstehen. Zumindest bis der erste Sturm sich zusammenbraut, eine Pandemie ausbricht … oder man die Leute in der Nachbarkabine wirklich nicht leiden kann.